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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz Strunz: Die Traumerfahrung der Blinden

tegorieversteckte Aggressivität bei Blinden weit höher als bei Sehenden. Dies scheint allerdings auf Aggressions­stau bei Blinden zu verweisen, da ihnen offene Aggressionsabfuhr durch ihre Be­hinderung nahezu vollständig unmög­lich gemacht ist und erlittene Zurückset­zung ohne Chance der Gegenwehr bleibt. Bei diesem Sachverhalt erstaunt die, im Vergleich zu Sehenden, geringe­re Selbstaggression in Träumen Blinder. Für die Erblindung, so scheint es, weisen Blinde sich, im Gegensatz zur Auffas­sung psychoanalytischer Autoren(Blank 1958a, von Schumann 1959), selbst keine Schuld zu und zeigen auch keine Nei­gung zu masochistischer Quälerei.

Bei blinden Frauen war die Traumpro­blematik der Blinden als ausgeprägter geschildert worden(von Schumann 1959). In Übereinstimmung damit fan­den Kirtley& Sabo(1981, 1983) in weiblichen Träumen, im Vergleich zur Norm bei blinden Männern, die bei die­sen schon niveauhöher ist als bei Sehen­den, ein mehrfach höheres Quantum an sprachlicher und versteckter Aggressivi­tät vor. Blinde Frauen scheinen von ih­rer Rolle her in noch geringerem Maße zur Äußerung von Aggressivität in der Lage zu sein als sehende. Das gleichfalls gegenüber Männerträumen erhöhte Vorkommen von sexuellen Frustration­sträumen bei blinden Frauen erklären Kirtley& Sabo(1983) mit den geringe­ren sexuellen Möglichkeiten blinder Frauen, während es blinden Männern in der Regel weniger schwerfällt, Partner, blinde als auch sehende, zu finden.

3. Freundliche Interaktionen in Träu­men der Blinden unterscheiden sich von denen Sehender darin, daß Blinde die eher demonstrativen Freundschaftsbe­zeigungen meiden und die passiveren Formen(freundliche Gedanken, Anre­den u.ä.) bevorzugen, in denen sie ge­genüber der Norm Sehender erhöhte Quanten aufweisen. Dies mag sich aus der Abhängigkeit der Blinden von Dienstleistungen Sehender erklären, die ein vorsichtig freundliches Interagieren geboten erscheinen läßt. Die Passivität in freundlichen Interaktionen ist in Frauenträumen noch deutlicher akzen­

tuiert(Kirtley& Sabo 1984).

4. Der Blinde träumt weniger von Putz und Kleidung als der Sehende, ist aber weit mehr als jener mit seinem Körper und einzelnen Körperteilen beschäftigt. Wenn dies bei einem Behinderten nicht weiter erstaunt, da ihm ja eben daraus mehr Schwierigkeiten erwachsen als dem Vollsinnigen, dessen Sehapparat funktioniert, so ebenso wenig das Ergeb­nis erhöhter Traurigkeit in den Blinden­träumen als Folge seiner größeren Ein­schränkung in allen Vitaläußerungen. Freilich fehlt auf der anderen Seite im Durchschnitt auch Depressivität und pa­ranoide Rückzugstendenz.

5. Blinde haben im Durchschnitt weni­ger vertraute Umgebungselemente in ih­ren Träumen als Sehende. Viele Traum­umgebungen sind zweideutig und von unsicherer Vertrautheit. Dies ist un­schwer aus dem Fehlen des die Orientie­rung zunächst erleichternden und her­stellenden visuellen Sinnesmodus zu er­klären und verweist auf ein größeres Be­dürfnis der Blinden nach Raumorientie­rung. Der insistierende Ordnungsdrang der Blinden(Villey 1930a) findet hierin ebenso seine Erklärung wie die Tatsa­che, daß kleine Gegenstände sich in Träumen als deutlicher und vertrauter abheben(Wheeler 1920), da letztere der taktilen Bekanntschaft zugänglicher, be­-greif-barer sind als größere, nicht mit dem Tastsinn erfaßbare.

Insgesamt ist dieser Aspekt der Blinden­träume wohl ein Hinweis für größere Entfremdung von der Umwelt als sie Se­henden überhaupt möglich ist. Eine Distanziertheitshaltung des Traumsub­jekts von der Traumhandlung ist des öf­

teren hervorgehoben worden (Hitschmann 1894, von Schumann 1955b).

6. In Blindenträumen agieren weniger Traumpersonen als in denen Sehender, sichtlich ein Ausdruck der verminderten Möglichkeiten, Freundschaften und Be­kanntschaften zu schließen. Möglicher­weise ist auch das Einsamkeitsgefühl Blinder entsprechend höher.

7. Die Traumberichtsrate wird bei Blin­den insgesamt als vermindert gegenüber der Sehender beschrieben(Wimmer

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987

1869, Jastrow 1888). Einzig Bolli(1932) berichtet in etwa gleich gute Traumerin­nerung. Gleichzeitig fiel ein gegenüber blinden Männern höheres Traumquan­tum bei blinden Frauen auf(Jastrow 1888), ein Ergebnis, das auch bei Sehen­den immer wieder aufgefunden wurde (Strunz 1986).

Die eben geschilderte Traumerinne­rungsfrequenz gilt allerdings nur für zu Hause berichtete Träume. Im Labor, bei Weckungen blinder Probanden aus dem REM-Schlaf, fanden Kerr et al.(1982) keinerlei Unterschiede zur Frequenz der Sehenden noch auch Geschlechtsunter­schiede.

Es bleibt noch, auf den geringeren Phan­tasiegehalt, der von der mangelnden Sin­nesrezeption Behinderter allgemein und besonders der Blinden hergeleitet wur­de, einzugehen. Zahlreiche Autoren fan­den die Phantasiewelt der Blinden dürf­tiger als die der Sehenden(Jastrow 1888, Hitschmann 1894, Kimmins 1931, Blank 1958a, Singer& Streiner 1966). Dem ste­hen ebenso zahlreiche Mitteilungen ent­gegen, die aus der Durchsicht von Blin­denträumen keinerlei Phantasieverar­mung durch die Erblindung in ihnen feststellen konnten(Lenk 1922, Bürklen 1924, Buttenwieser-Kauffmann 1927, Deutsch 1928, Bolli 1932, Wanecek 1955, Blank 1958b).

Kirtley& Sabo(1979), die Blindenträu­me nach einer Reihe von Phantasieindi­katoren(unlogische, ungewöhnliche und bizarre Elemente, Tiere, Symbolis­men u. a.) kategorisierten, fanden in der Tat den Symbolgehalt der Blindenträu­me insgesamt, d.h. über das Gesamt­sample, erniedrigt und umso niedriger, je früher die Erblindung erfolgt war. Heermann(1838) hatte bereits bei frü­her Erblindung die Traumberichtsrate gegenüber später Erblindeten als ernie­drigt gefunden. Blinde träumen eher konkret, weil sie offenbar mit konkret anstehender Problemlösung in weit hö­herem Maße beschäftigt sind als die Se­henden, die weit mehr Zeit zu schweifender Phantasiebetätigung auf­wenden können als Blinde.

Daß Blindenträume, wenn auch mögli­cherweise seltener, zu jedem Grad an

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