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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Symbolgehalt und Phantasiefülle in der Lage sind also Blindheit nicht notwen­digerweise die Phantasie verarmt, zei­gen zahlreiche Beispiele in der Literatur, deren beeindruckendste wohl der Ein­zelfallstudie von Kirtley& Hall(1975) zu entnehmen sind, deren Proband durch besonders floride Sexualträume in quan­titativer und qualitativer Exzessivität im­poniert.

Im ganzen verweisen die inhaltsanalyti­schen Traumstudien auf eine Bestäti­gung der von den meisten Traumfor­schern(z.B. Hall& Van de Castle 1966) angenommenen Kontinuitätshypothe­se, derzufolge Traum und Leben keine voneinander unterschiedenen Größen sein können. Es war nicht zu erwarten, daß die Träume Blinder genauso be­schaffen seien wie die Sehender. Ihre Lebensbedingungen sind dazu durch die unterschiedliche Sinnesbefähigung zu verschieden. Daß sie aber gänzlich an­ders seien, wie das durch den Tiresias­Archetyp insinuiert wird, ist in den Be­reich der Fabel zu verweisen. Das Ge­meinsame aus der allgemeinen condicio humana verbindet Blinde und Sehende mehr als es sie trennt.

Die Traumerfahrung bei vergleichbarer Behinderung

Die Träume der Blinden spiegeln, wie wir sahen, die Lebenswelt der Betroffe­nen klar wieder. Sie sind von so abwei­chender Qualität, daß sie in durch­schnittlicher Inhaltsanalyse ihre Eigen­heit zu erkennen geben, nicht aber so hinreichend klar als Blindenträume er­kennbar, daß ein Außenstehender sie Ohne weiteres als solche unterscheiden könnte(Kirtley& Hall 1975), zumal selbst kongenital Blinde von visuellen Wahrnehmungsverben reichlichen Ge­brauch machen.

Die wenigen Studien zu anderen, mit der Blindheit vergleichbaren, Behinde­rungen, zeichnen ein ganz ähnliches

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Franz Strunz: Die Traumerfahrung der Blinden

Bild. Taube und Taubstumme träumen in der Regel im visuelllen Modus, ver­wenden aber in ihren Berichten, in An­lehnung an die Sehender, Hörverben zur Schilderung des im Traum Erlebten (Neuert 1917/18) und zwar besonders dann, wenn ihre Ertaubung nach der kri­tischen Phase liegt, die sich auch hier zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr zu bewegen scheint(Heermann 1838). Ihre Träume sind in besonders hellen Farben (Mendelson et al. 1960), deren erhöhte Eindruckskraft offenbar durch den feh­lenden Sinn hervorgerufen wird. Auch ihre Träume sind eher konkret und von geringerer Phantastik als die Vollsinni­ger(Kimmins 1931, Singer& Lenahan 1976) und stimmen hierin weitgehend mit denen der Blinden überein. Recht einheitlich wird größerer Angstgehalt auch in den Träumen der Tauben und Taubstummen(Neuert 1917/18) und vor allem der Taubblinden(Blank 1958a) berichtet, da sie, wie Blinde, eher überraschbar und in geringerem Maß zur Realitätsprüfung und zu geeigneten Maßnahmen auf unvorhergesehene Si­tuationen befähigt sind.

Die in den Träumen häufig vorkom­mende Unversehrtheit des Behinderten wird in der Regel nach dem Freudschen System als onirische Wunscherfüllung erklärt. Wenn letztere auch nicht auszu­schließen ist auch Unversehrte träu­men bisweilen Ersehntes als erfüllt, scheint eine derartige Interpretation im Lichte neuerer Erkenntnisse der kogniti­ven Psychologie doch zu kurz zu greifen. Heermann(1838) hatte bereits erkannt, daß nach der Erblindung von Visuellem Geträumtes aus kortikal gespeicherten Bildern kommen müsse, da bei den mei­sten Erblindeten die Sehapparatur, ein­schließlich der neuronalen Strukturen, degeneriert war.

Erblindete haben kortikale Abspeiche­rungen ihrer früheren Seherlebnisse in Form von Schemata, Sehschablonen, Repräsentanzen, die sowohl in der Ta­ges- wie in der Nachtphantasie des Traums allzeit abrufbar sind. Dabei wird dieses Schematamaterial durch Anlage­rung neuer, wenn auch nur auditiver, Sinneseindrücke zu innovativen Traum­

bildern neukombiniert. Das scheint auch deshalb naheliegend als Hoffmann & Klimesch(1984) jüngst wahrscheinlich machen konnten, daß sowohl Gesehe­nes als auch verbal Gelesenes oder Ge­hörtes in einem gemeinsamen semanti­schen Gedächtnis, in abstrakterer Form als es der visuelle oder verbale Gehalt war, Aufnahme findet und vice versa bei Abruf auch wieder in beide Sinnesmodi, wenn auch nichtwörtlich, umgießbar wird.

Eine solche gemeinsame Speicherung könnte auch das von Landau& Gileit­man(1985) an kongenital blinden Kin­dern gefundene Unterscheidungsver­mögen zwischen dem passiven Verbse­hen(to see) und dem aktivenschauen (to look) erklären, dessen für die Sehen­den unterschiedlicher Bedeutungsgehalt den blinden Kindern genau bekannt war.

Wenn also Amputierte sich noch lange nach ihrer Amputation als im Besitz ih­res vollen Gliedes träumen(Shukla et al. 1982), ein Hodenloser Pollutionen erlebt (Fisher 1966), Querschnittgelähmte träumend normalen Geschlechtsver­kehr und Ejakulationen erfahren(Co­marr et al. 1983), ein zum Riechen nicht mehr Befähigter Geruchsträume hat (Müller 1948), ein Humpelnder sich nie als mit diesem Gebrechen behaftet träumt(Chesni 1969), ja selbst Farben­blinde im Traum die lebhaftesten Far­ben wahrzunehmen vermögen(Yazma­Jjian 1982) und Blinde visuelle Schilde­rungen in ihre Traumberichte flechten, so beweist das alles weniger realitäts­fremde geträumte Erfüllung des Wun­sches nach Intaktheit als vielmehr dies, daß Träumen nicht als bloße Reproduk­tion der derzeit sinnlich wahrgenomme­nen Außenwelt zu begreifen ist, viel eher als aktiver kognitiver Prozeß, der aus den Sinneskanälen Bekanntes und auch bloß Vorgestelltes selbständig neu kombi­niert.

Wäre dem anders, so müßte man eher annehmen, daß das Traumleben der Blinden oder der in anderer Weise De­privierten vollkommen verschiedene, uns unbekannte, Charakteristika aufwei­sen sollte als es tatsächlich der Fall ist.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987