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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Thomas Steinke: Die Einführung verhaltenstheoretisch orientierter Behandlungsmaßnahmen in die Heimerziehung am Beispiel des Aggressionstrainings

Pflöcke zu verstehen, um Bedeutung und Auswirkungen von Therapien in psychosozialen Einrichtungen aus un­terschiedlichen Blickwinkeln abzustek­ken.

Bei der Darstellung und Analyse der vor­liegenden Einführungen von Therapie­programmen in verschiedene psychoso­ziale Einrichtungen geht es zunächst da­rum, aufzuzeigen, wie standardisierte Therapieverfahren in die Praxis psycho­sozialer Institutionen eingeführt wurden und was sich dabei an den Programmen und in den Einrichtungen in zeitlicher, sachlicher und personeller Hinsicht än­dern mußte. Möglicherweise kann diese Form theoriegeleiteter kumulativer Er­fahrungsverwertung zu einer weiteren Absicherung und Begründung therapeu­tischen Handelns in Institutionen die­nen, vielleicht sogar Anregungen für weitere wissenschaftliche Untersuchun­gen bieten.

1. Aufgaben und Leistungs­merkmale des Heimes

Heime sind Organisationen, die über recht unterschiedliche genuine Lei­stungsmöglichkeiten verfügen, welche sie von anderen Organisationen und Formen der Jugendhilfe unterscheiden. Unter anderem zählen hierzu die Merk­male der Belastbarkeit und Flexibilität. Wenngleich empirisch abgesicherte Ar­beiten zu diesem Themenbereich bis­lang noch fehlen, kann davon ausgegan­gen werden, daß Vorzüge und Nachteile organisationsförmig vollzogener Arbeit im Heim ebenso erscheinen, wie in an­deren ‚People-processing-organiza­tions. Wir gehen davon aus, daß Heim­erziehung eine professionelle Institu­tion ist und keine Lebensgemeinschaft. Trotzdem ist eine emotionale Bezie­hung zwischen den Betreuern und den Kindern und Jugendlichen die Grundla­ge für systematische, zielgerichtete, kon­trollierte und zeitlich begrenzte Erzie­hung und Therapie. Heimerziehung wird in Organisationen durchgeführt. Ih­re Möglichkeiten und Leistungsgrenzen

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sind mitbedingt durch die jeweilige Ei­genart des einzelnen Heims. Im Folgen­den beschreiben wir allgemeine Merk­male von Heimerziehung, die sie von an­deren, insbesondere den ambulanten Jungendhilfemaßnahmen unterschei­den. Diese Merkmale sind bei der Ein­führung verhaltenstheoretisch orientier­ter Behandlungsverfahren in die Heim­erziehung zu berücksichtigen.

1.1. Elternarbeit

Die Trennung des Kindes/Jugendlichen von seinen Eltern oder sonstigen Be­zugspersonen und peers ist die ein­schneidenste Maßnahme mit der Hei­merziehung erst möglich wird. In der Regel ist die Trennung beabsichtigt. Die Entscheidungsträger und häufig auch die Kinder versprechen sich positive Veränderungen kurzfristiger Art oder auf Dauer. Wie auch immer die häusli­che Situation des Kindes aussah, ganz gleich, ob es sich mit seinen Eltern ver­stand oder ob es sie ablehnte und abge­lehnt wurde, ob es offensichtlich oder verdeckt, bewußt oder aus Unkenntnis, mit offener oder versteckter Gewalt in seiner Entwicklung behindert wurde, die Eltern und sein Zuhause werden auch nach der Trennung und vielleicht sogar dann in zunehmendem Maße entwick­lungsbestimmend wirken. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, daß eine vollständige Trennung von den El­tern und ein Sperren der Kontaktmög­lichkeiten diesen Einfluß völlig ausschal­tet. Im Gegenteil: Schon nach geringer Zeit überstrahlen die positiv getönten gemeinsamen Erlebnisse des Kindes mit seinen Eltern die traumatisierenden Ereignisse und selbst dem einfühlsam­sten und freundlichsten Erzieher gegen­über wird der Wunsch nach einem Wie­dersehen, die Hoffnung ‚es wird al­les wieder gut und die Trauer über die Trennung geäußert. Und so wird unter­schwellig oder in akuten Krisen eine Aufgabe der Heimerziehung wie jeder anderen Ersatzerziehung bemerkbar, nämlich bestimmte Aufgaben der Eltern zu übernehmen, ohne die Eltern

aufzugeben. Dies ist nur durch El/ternar­beit leistbar. Durch den Kontakt der Be­treuer mit den Eltern in deren Haushalt oder im Heim können die Eltern die Be­ziehung zu ihrem Kind aufrecht erhal­ten, was ihnen die Chance bietet nach ei­ner gewissen Zeit und Veränderung in der Problemkonstellation wieder aufein­ander zugehen zu können. Andererseits können durch die Kontakte des Kindes mit den Eltern alte Schwierigkeiten er­neut aufflammen. So steht das Heim vor der Aufgabe Elternarbeit leisten zu müssen, um symptomatische Verhal­tensweisen des Kindes modifizieren zu können, wobei allerdings jeder notwen­dige Kontakt mit den Eltern Nebenwir­kungen hervorrufen kann, die nicht för­derlich für die Entwicklung des Kindes sind.

1.2 ‚Gelungener Alltag, Erziehung und Therapie

Der Eintritt in das Heim und die Kon­frontation mit den dort herrschenden völlig neuartigen Lebensbedingungen bedeutet für das Kind eine fast vollstän­dige psychosoziale Entwurzelung. Die Auswirkungen dieses fundamentalen Einschnitts in das Erleben und Handeln des Kindes lassen sich erst dann ansat­zweise nachvollziehen, wenn man einen Vergleich anstellt zwischen seinen bis­herigen Lebensbedingungen und der zu seiner Meisterung erworbenen Leben­stechniken mit der neuen Umwelt im Heim und den daraus resultierenden Anforderungen im Einzelnen. Mit der Einweisung in ein Heim wird die Auflö­sung des Alltags von ‚zu Hause mit sei­nen sicheren Zuordnungsmöglichkeiten und gleichzeitig der generelle Aufbau der Alltäglichkeit in den Daseinszonen des Heims zum Problem. Zugleich kann dieser Prozeß für das Kind auch die Möglichkeit einer grundlegenden Ände­rung von Verhaltensweisen und Einstel­lungen bedeuten. Das Heim hat in die­sem Zusammenhang die Aufgabe, we­sentliche Elemente einer Grundform so­zialen Erlebens, nämlich des Lebens in einer Familie zu ersetzen. Dazu gehört

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986