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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Buchbesprechungen

(Allgemeine Heil- und Sonderpädagogik Rehabilitation)

Haeberlin, Urs: Das Menschenbild für die Heilpädagogik.(Einführung in die Heilpädagogik, Band 2). 104 Seiten mit 5 graphischen Darstellungen. 1985. DM 19,50. Verlag Paul Haupt, Bern/Stutt­gart.

Dem Verfasser geht es nicht darum, ein besonderes Menschenbild für Behinder­te zu entwerfen:Wir haben uns dafür entschieden, daß für das behinderte Kind das gleiche Menschenbild Gültig­keit haben soll wie für uns selbst(11). Anthropologische Grundannahmen mit deskriptiver Funktion ergänzt er durch solche mit normativer Funktion. Das entspricht dem Verständnis von Heil­pädagogik, das Haeberlin im 1. Band sei­ner Einführung in die Heilpädagogik entwickelt hat: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft.

Der Leitbegriff in Haeberlins heilpäd­agogischer Anthropologie heißtIdenti­tät. In ihr sieht er das Ziel menschlicher Entwicklung. Haeberlin unterscheidet drei Formen von Identität: biologische, gesellschaftliche und sittlich-religiöse Identität. Aber keine dieser dreiIdenti­täten kann für sich allein dem Men­schen wahre Identität geben, sondern sie muß stets in Spannung zu den beiden anderen Formen von Identität gesehen werden. Der Schwerpunkt der Ausfüh­rungen von Haeberlin liegt dabei auf der Beschreibung des Verhältnisses von ge­sellschaftlicher und sittlich-religiöser Identität.

Der Begriff der sittlich-religiösen Identi­tät, den Haeberlin ausführlich unter­sucht, erhält zwei normative Grundan­nahmen. die erste lautet:Der Mensch soll sich zu einer Person entwickeln, die Wertentscheidungen zur Grundlage ih­res Handelns macht. Die zweite Grundannahme heißt:Der Mensch soll

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986

nicht nur durch die Fähigkeit der reflek­tiven Intelligenz ausgezeichnet sein, sondern auch durch die Möglichkeit der emotionalen Hingabe(73). Beide Grundannahmen bilden ein Ganzes, so daß Haeberlin zwar sittliche und reli­giöse Identität begrifflich unterscheidet, letztlich aber ihre Einheit als Verbin­dung von Handeln und Liebe unter­streicht.

Dieses anthropologisch-normative Mo­dell deckt sich mit Paul Moors Lehre vomInneren Halt, die ausführlich vor­gestellt wird. Besonders eindrücklich ist die Beschreibung der einzelnen Teil­schritte, die auf dem Weg hin zu einer sittlich-religiösen Haltung zurückgelegt werden müssen.

Damit wäre der Grundaufbau des Wer­kes von Haeberlin eigentlich schon skiz­ziert. Einzelne Abschnitte seien noch besonders hervorgehoben. So enthält das Buch im Mittelteil zur Vorbereitung der eigentlichen These knappe Darstel­lungen der sozialpsychologischen Iden­titätstheorie E. Goffmans und der so­zialphilosophischen Identitätstheorie G. H. Meads sowie eine kritische Ausein­andersetzung mit der Entfremdungs­theorie des Marxismus. Alle drei Ansät­ze betonen die gesellschaftliche Abhän­gigkeit des Menschen. Ihr relativer Wahrheitsgehalt wird von Haeberlin ausdrücklich festgehalten und durch das Postulat der Vermenschlichung des Menschen zum sittlich-religiösen We­sen ergänzt.

Haeberlins heilpädagogische Anthropo­logie ist für wissenschaftlich und für praktisch arbeitende Heilpädagogen von großer Bedeutung. Sie bietet Hilfe zur Reflexion der in Theorie und Praxis(im­mer) vorhandenen Menschenbilder und gibt Anregungen für den Aufbau eines wirklich tragfähigen Menschenbildes für die Heilpädagogik. Die Form der Dar­

stellung ist klar und übersichtlich. Litera­tur- und Sachverzeichnis machen die Veröffentlichung noch wertvoller.

Auf dem Hintergrund dieser grundsätz­lich positiven Einschätzung seien einige kritische Anmerkungen erlaubt:

Interessant wäre eine genauere Aus­einandersetzung mit Haeberlins Reli­giositätsbegriff. Dieser meint weder eine bestimmte Konfession noch eine be­stimmte Kirche, sonderndie menschli­che Möglichkeit der wertgeleiteten Emotionalität(71).Aufgrund dieser Möglichkeit kann der Mensch vom Glauben an den Wert der Gleichheit und an die Idee der Nächstenliebe emo­tional überwältigt werden(73 f.). Es fragt sich, ob durch diese Hervorhebung des Gefühls der Kern des Religiösen erreicht wird, ob Religion hier nicht zu sehr psychologisiert wird. Man müßte zur Vermeidung dieser Engführung das in der Regel mit dem Religiösen verbun­dene Moment des Transzendenten, des unbedingten Anspruchs sowie die Geist­bezogenheit der Religiosität, also die sittlliche Komponente des Religiösen deutlicher herausarbeiten, als es bei Haeberlin geschieht.

Haeberlins heilpädagogische Anthro­pologie geht von zwei Wertentscheidun­gen aus. Die eine bezieht sich auf den Wert der Gleichheit der Menschen, die andere auf den Wert der Nächstenliebe. Beide Entscheidungen werden als letzt­lich unbeweisbar vorausgesetzt. Dieser Charakterisierung ist zuzustimmen, weil jede Wertentscheidung ihre letzte Be­gründung in der persönlichen Freiheit des Menschen hat. Andererseits werden Wertentscheidungen immer in einem bestimmten historischen Kontext ge­fällt. Dieser trägt im Fall einer Entschei­dung für die Werte der Gleichheit aller Menschen und der Nächstenliebe deut­lich christliches Gepräge. Ein Aufweis

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