Entwicklung der Lesefähigkeit während des ersten
Schuljahres
2. Entwicklung des Leseverhaltens
Von C. Klicpera und S. Schachner-Wolfram
Bei 30 Kindern der ersten Klasse Volksschule wurde im Verlauf des ersten Schuljahres in regelmäßigen sechswöchigen Abständen die Lesefähigkeit für bekannte, d.h. von den Kindern bereits im Unterricht gelesene Wörter, für neue Wörter und für Pseudowörter bestimmt. Es wird über die qualitative Analyse der Lesefehler und die Beobachtung des Leseverhaltens berichtet. Nach der Art der Lesefehler und im Leseverhalten ließen sich klar zwei Stufen der Leseentwicklung erkennen: ein anfängliches wortspezifisches Lesen ging der Entwicklung des Erlesens voraus. Leseschwache Schüler zeigten Schwierigkeiten beim Übergang zwischen diesen beiden Phasen.
NZZ The ability of 30 first grade children to read familiar words, new words and pseudowords was evaluated eveıy six weeks throughout the school year. The results of the qualitative analysis of reading errors and of the observations of reading behavior showed two stages in reading development. Initially the children’s reading was word- and to a certain extent also text-specific. Only later on could the children apply their knowledge of grapheme-phoneme correspondences to new words and pseudowords. It was particularly difficult for poor readers to make the transition between the two stages.
Die Entwicklung der Lesesicherheit und Lesegeläufigkeit zeigt im Verlauf des ersten Schuljahres keinen kontinuierlichen Anstieg, sondern einen ungleichmäßigen Verlauf, der darauf hindeutet, daß sich die Lesefähigkeit in qualitativ unterschiedlichen Entwicklungsphasen ausbildet(Klicpera und Schachner-Wolfram 1987 a). Frühere Untersuchungen, die sich auf eine qualitative Analyse der Lesefehler stützten, sind zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt und haben die Diskontinuität zwischen diesen Phasen hervorgehoben. Untersuchungen von Weber(1970), Biemiller(1970), Cohen (1975) und Francis(1977, 1984) haben gezeigt, daß die Qualität der Lesefehler in verschiedenen Stadien des Leselernprozesses jeweils unterschiedlich ist. Anfangs weisen Fehler beim Lesen kaum eine Ähnlichkeit zu den vorhandenen, von den Kindern zu lesenden Wörtern auf, sondern bestehen vor allem aus anderen, den Kindern bereits vom Lesen
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bekannten Wörtern. Wenn die Kinder die Wörter nicht spontan richtig lesen, berücksichtigen sie in ihren Fehlern oft nur wenige graphische Merkmale der Wörter, am ehesten den Anfangsbuchstaben. Später, etwa ab der zweiten Hälfte des ersten Schuljahres, ähneln die fehlerhaft gelesenen Wörter weit mehr ihren Vorbildern. Eine weitaus größere Zahl von Wortmerkmalen wird berücksichtigt, nicht nur der Anfangsbuchstabe, sondern auch andere Buchstaben. Während die Lesefehler zunächst ausschließlich aus sinnvollen Wörtern bestanden, zumeist, wie erwähnt, aus den Kindern bereits bekannten Wörtern, sind die Fehler nun oft sinnlose Wörter, die zwar eine hohe Ähnlichkeit zu den Vorbildern haben, aber keine richtigen Wörter darstellen. Der Übergang zwischen diesen beiden Verhaltensweisen wird als diskontinuierlich beschrieben. Beim Übergang tritt oft eine Phase auf, in der die Kinder überhaupt den Ver
such, das zu lesende Wort auszusprechen, verweigern.
Diese Untersuchungen wurden allerdings im englischen Sprachraum durchgeführt, in dem das Schriftsystem eine recht unregelmäßige Buchstaben-LautZuordnung aufweist. Die Untersuchungen wurden überwiegend auch in Schulen durchgeführt, die Erstleselehrgänge verwendeten, in denen BuchstabenLaut-Zuordnungen erst relativ spät systematisch eingeführt wurden.
Es ist daher nur bedingt möglich, diese Beschreibung der Leseentwicklung auf die Leseentwicklung im deutschsprachigen Raum, für den keine derartige Untersuchung bekannt ist, zu übertragen. Im Deutschen ist die Buchstaben-LautZuordnung viel systematischer und regelmäßiger, und der Erstleseunterricht orientiert sich stärker an synthetischen Leselehrgängen.
In dieser Untersuchung sollte daher die Frage geklärt werden, ob die von Biemil
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 1, 1988