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Manfred Spindler+ Leben im Heim
kann eine Interaktionsdynamik entstehen, von Rahmenbedingungen, Funktionsträgern und Zöglingen, welche Individuumzentrierung enorm erschwert und langfristig die Defizite der Zöglinge eher vergrößert. Möglicherweise wird die Person erst dann fokussiert, wenn sie den Ablauf des Alltags grob stört. Berridge beobachtete, daß neu eingewiesene Kinder Rückzugs- und Kontaktvermeidungsverhalten noch nicht zeigen(Berridge 1985). Wahrscheinlich ist also, daß sich die Anteile der Kinder an der vermuteten Dynamik erst unter den Bedingungen des Heimlebens ausbilden. Die kritischere Haltung der Befragten in L gegenüber ihren Eltern dürfte damit zusammenhängen, daß L vorwiegend Jugendliche beherbergt und diese sich bewußter mit dem Versagen der Familie auseinandersetzen und den unterliegenden, vielfältigen Gründen, die zur Heimunterbringung führten. Jüngere Kinder nennen im Interview oft recht vordergründige Anläße und Ursachen der Heimunterbringung, wie Berufstätigkeit der Eltern oder Wohnungsmangel, während Jugendliche hier sehr viel rascher und direkter die jeweiligen Zusammenhänge herausarbeiten.
Nach Moos korrelieren beziehungsorientierte Milieus, wie in beiden Heimen vorgefunden, mit positiver Entwicklung der Zöglinge(Moos 1975). Wünschenswert erschiene, persönliche Entwicklung und Reife durch stärkere Orientierung an persönlichen Problemen und Gefühlen der Einzelnen noch mehr zu unterstützen. Die Schwerpunktsetzung auf Ordnung und Organisation könnte gelockert werden, da zu starke Betonung dieser Dimension„den Behandlungsprozeß behindert durch Verminderung der Offenheit und Spontanität des Selbstausdrucks‘“(Moos 1975, 112). Weiterhin wäre von einem Heim als Sozialisationsinstanz schon zu erwarten, daß die Teilnahme am gesellschaftli
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chen Leben außerhalb der Einrichtung nicht nur im Bereich der aktiven Freizeitgestaltung(wie in L, in S hingegen sehr viel weniger) ermöglicht wird, sondern auch intellektuelle und kulturelle Anregungen stärker eingeführt und entsprechende Settings innerhalb wie auBßerhalb des Heimes verfügbar werden.
Schlußfolgerungen
Auf dem Hintergrund der Befunde müssen die Entwicklungsbedingungen positiver Identität im Heim skeptisch betrachtet werden. Es kann zwar ein gewisses Wohlfühlen erlebt werden, Beziehungen von Bindungsqualität sind dort jedoch nicht zu erfahren. Die vorgefundenen Lebensbedingungen sind geprägt von eher persönlich distanzierten, konfliktträchtigen Beziehungsqualitäten, hoher sozialer Instabilität, mangelnder Privatsphäre sowie enormen Schwierigkeiten individualisierter Betreuung. Die heiminternen Abläufe sind geprägt von einem hohen Maß an Ordnung, Organisation und Klarheit oft jedoch auf Kosten individueller Handlungsmöglichkeiten. Intellektuell-kulturelle Themen und die Probleme und Sorgen des Einzelnen treten in den Hintergrund gegenüber geordneten Routineabläufen und Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten.
Obwohl Heimerziehung eher als Notlösung denn als Lebensalternative zu betrachten ist, lassen sich doch potentielle Möglichkeiten ausmachen: Der Vergleich der beiden Heime zeigt, daß Freiräume und Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen und damit Gelegenheit zu privater, autonomer Lebensgestaltung je nach unterliegendem pädagogischen Ethos variiert werden können, ebenso die Zugangsmöglichkeiten zu anderen Settings.
Hinsichtlich der bleibenden subjektiven Bedeutung der Herkunftsfamilie ist es notwendig die Gesamtsituation des Zöglings in Heim und Familie berücksichtigen.
Angebracht erscheint eine Sicht, daß Familie und Heim sich wichtige Aufgaben teilen. Innerhalb des Heimes erleben die Zöglinge Versorgung, ein hohes Maß an Struktur, Klarheit, Ordnung und lebenspraktischer Vorbereitung. Die Angehörigen der Heimzöglinge können dies nur sehr bedingt oder nicht leisten. Sie hingegen bieten Beziehungen von Bindungsqualität und Privatsphäre, oftmals konstant über lange Jahre.
Die Datenerhebung erfolgte vor Inkrafttreten des KJHG und Hilfeplanerstellung wurde zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht durchgeführt. Individuelle Erziehungsplanung schien eher als die alleinige Aufgabe der Institution verstanden. Zu begrüßen ist die im KJHG vorgeschriebene individuelle, kontinuierliche Hilfeplanung von Heim und Jugendamt zusammen mit den betroffenen Zöglingen und ihren Angehörigen. Hier werden die verschiedenen Lebens- Bezugsund Hilfesysteme immer wieder zusammengeführt, individuelle Maßnahmen erarbeitet und Aufgaben verteilt. Fortlaufende Hilfeplanung könnte die Fokussierung individueller Bedürfnisse unterstützen und den Betreuungsprozeß fortlaufend kontrollieren. Abzuwarten bleibt, wie in der Praxis der Heimerziehung diese Rahmenbedingungen ausgefüllt und in den Alltag umgesetzt werden. Der Hilfeplan könnte ein nützliches Instrument werden, mehr individuelle Bezogenheit und Spezifität in der Heimerziehung einzufordern(vgl. Spindler 1993). Der psychischen Bedeutung der Herkunftsfamilie würde durch deren Einbezug bei der Hilfeplanung das Gewicht im gesamten Ablauf verliehen, das ihr im Erleben der Zöglinge zukommt.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993