Manfred Spindler» Leben im Heim
mittelt werden können. Bei weitaus den meisten Zöglingen kümmern Angehörige sich auch nach Jahren noch um die Kinder, sind interessiert an Besuchen und pflegen familiäre Bande. Obwohl in Heim L die Angehörigen weiter entfernt leben unterscheiden sich die Besuchshäufigkeiten nicht signifikant. Dies kann als Hinweis interpretiert werden, daß Entfernungen beim Aufrechterhalten von Besuchen eher eine untergeordnete Rolle spielen. Die Interviewbefunde wie die Daten des Fragebogens erlauben den Schluß, daß im Heim ein gewisses Wohlfühlen entwickelt werden kann. Allerdings finden sich Hinweise, daß es sich gleichzeitig um ein recht konfliktträchtiges Milieu handelt. Spannungen und Reizbarkeit der Zöglinge hängen möglicherweise zusammen mit Belastungen aus familiären Problematiken, entwicklungsgeschichtlich erklärbaren Defiziten sozialer Kompetenz, oder auch mit Bedingungen des Heimlebens selbst. Als belastend zeigte sich die Heterogenität der Gruppenzusammensetzung und damit der Interessen, die Inkonstanz der personalen Bezüge, die mangelhafte Privatsphäre, die Schwierigkeiten, Individualität innerhalb des Kollektivs zu unterstützen oder auch die Tatsache, nicht mit den Angehörigen leben zu können.
Anzunehmen ist, daß die Notwendigkeit, sich immer wieder mit Individuen arrangieren zu müssen, auch mit solchen, deren Eigenarten Widerstreben auslösen, Beziehungsbildungs- und Kontaktformen ganz eigener Art hervorbringt. Vermutlich unterscheiden sich Aufnahme und Entwicklung von Beziehungen, die psychosoziale Regulationsfunktionen in diesem Setting von anderen Kontexten. Möglicherweise wird unter diesen heimspezifischen Sozialisationsbedingungen gelernt, rasch mit neuen Menschen in Kontakt zu treten und die Einordnung in die soziale Hierarchie des Kollektivs vorzunehmen. Hier wird vielleicht gelernt, emotionale Involviertheit gegenüber dem einzelnen Individuum auf einem Niveau zu halten, das erlaubt, rasch und ohne allzuviel Trennungsschmerz und Verlustempfinden die Beziehung wieder zu lösen. Bei einigen
Gruppenmitgliedern die Jahre zusammenleben, können sich zwar bedeutsamere Beziehungen und Freundschaften entwickeln, vielen gegenüber bleibt aber die Verbundenheit möglicherweise eher oberflächlich und damit die meisten Mitzöglinge emotional austauschbar. Eventuell ergeben sich aus einer solchen spezifischen Sozialisation Probleme in anderen Lebenskontexten. Hinweise auf eher emotional distanzierte Beziehungen in der Heimgruppe sind auch aus anderen Studien bekannt(vgl. Berridge 1985).
Die organisatorischen Bedingungen und Voraussetzungen für Frei- und Handlungsräume müssen in Zusammenhang gesehen werden mit der pädagogischen Grundorientierung. Eine an Freiheit und Selbstgestaltung orientierte Einstellung wird auch entsprechende organisatorische Gegebenheiten hervorbringen. Auch wenn eine grundsätzlich aufgeschlossene Haltung bemerkbar ist, hängen möglicherweise Auflagen die an Ausgang geknüpft werden mit der mangelnden Realisierung zusammen und können demotivierend wirken(z.B. Verbot, sich einer Clique anzuschließen, Kontrolle über Art der Außenunternehmungen, Notwendigkeit, Freunde vorzustellen). Außenkontakte und Anbindung an andere soziale Kontexte sind möglicherweise jedoch nicht nur von den Freiheiten im Erziehungsprogramm, Duldung und Förderung durch die Funktionsträger alleine beeinflußt. In Betracht gezogen werden müssen auch individuelle Eigenarten eines Zöglings(Ängste, Kontaktproblematiken), die noch aus der Zeit vor der Heimaufnehme herrühren können, schließlich auch Entfremdung von der Außenwelt als Folge mangelnden Zugangs. Vielleicht entsteht auch gar kein Bedürfnis, Beziehungen außerhalb des Heimes zu suchen, weil innerhalb des Heimes problemlos immer vertraute Kameraden zur Verfügung stehen. Wenn innerhalb der Institution immer Gefährten zur Verfügung stehen, warum sollte manches Kind motiviert sein, soziale Anbindungen außerhalb des Heimes zu suchen? In Heim S sind selbstbestimmte und selbstgestaltete Außenkontakte sehr viel weniger mög
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993
lich als in L, dennoch ist der Wunsch nach mehr Außenbeziehungen geringer ausgeprägt. Eine Erklärung könnte darin liegen, daß in Heim L mehr Jugendliche leben, und diese mehr Außenkontakte suchen als jüngere Kinder. Es könnte allerdings auch sein, daß der Wunsch nach selbstgestalteten Außenkontakten erst wächst, wenn diese einfacher möglich sind und genügend Zeit zur eigenen Gestaltung zur Verfügung steht, wie dies in L eher der Fall ist. Trifft dies zu, so adaptieren sich Wünsche an die Gegebenheiten. Ebenso könnte es bei den Routinen und Diensten sein: Entweder fühlen sich Jugendliche hier eher belastet und eingegrenzt, oder aber in einem Milieu relativ größerer Freiheit und Selbstbestimmung werden feste und wiederkehrende Eingrenzungen gravierender erlebt als in einem restriktiveren Feld.
Was den Umgang mit Eigentum oder den Informationsaustausch angeht, finden sich in beiden Heimen Indizes einer sehr ungeschützen Privatsphäre. Der tatsächliche Mangel an Schutz und das Ausmaß des Informationsaustausches über den Einzelnen ist oft gar nicht bewußt. Möglicherweise wird gerade dann, wenn keine Wahrung privater Sphäre erfolgt, eine Schutzillusion aufgebaut als Bewältigungsreaktion erlebter Exposition und Bloßstellung.
Aus den Interviews mit den Funktionsträgern wird wenig individuell spezifizierte Betreuung ersichtlich. Überlegungen, die sich auf ein einzelnes Kind beziehen, gehen rasch im Alltag wieder unter. Wie ausgeführt bietet individuelles Eingehen in der Heimgruppe enorme Schwierigkeiten. Äußerungen der Zöglinge, die als Indikatoren mangelhafter individueller Zuwendung, als Deprivationszeichen erscheinen, wie gesteigerte Eifersucht, Störverhalten oder Rückzug bei persönlichem Angesprochensein, können Maßnahmen zu ihrer Linderung(persönliche und individuell bezogene Intervention) erheblich erschweren. Sozial deprivierte Zöglinge können die Funktionsträger entmutigen, so daß sie ihrerseits mit Rückzug und Herstellung sozialer Distanz reagieren (vgl. Berridge 1985). Auf diese Weise
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