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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Heinrich Tröster& Michael Brambring+

fast alle blinden Kinder in der Bundesre­publik Deutschland betreut werden und ein Selektionseffekt hinsichtlich der zurückgeschickten Elternfragebogen nicht erkennbar ist.

Die Güte der Elternaussagen konnte in der vorliegenden Untersuchung nicht überprüft werden. Weder die Zuverläs­sigkeit, z.B. durch Wiederholungsmes­sung, noch die Gültigkeit der Aussagen, z.B. durch den Vergleich mit Beobach­tungsdaten, konnte berechnet werden. In weiteren Arbeiten wird eine solche me­thodische Überprüfung angestrebt.

Die Angaben über das Spielmaterial und über die Spielaktivitäten wurden durch offene Fragen erhoben. Die Befunde zeig­ten, daß ca. 10% der Eltern blinder und sehender Kinder keine Aussagen zum Allein- und Elternspiel machten. Daraus läßt sich allerdings nicht der Schluß zie­hen, daß die Kinder nie allein oder nie gemeinsam mit den Eltern gespielt ha­ben, sondern daß den Eltern zum Erhe­bungszeitpunkt keine passende Antwort einfiel. Durch vorgegebene Antwort­möglichkeiten könnte wahrscheinlich die Anzahl fehlender Angaben gemindert werden. Für die vorliegende Untersu­chung erschien diese Erhebungsform aber nichtangebracht, da keine hinreichenden Vorinformationen über blindentypische Spielmaterialien und-aktivitäten vorla­gen.

Die Ergebnisse ermöglichen einen Ver­gleich der Anzahl blinder und sehender Kinder, die bestimmte Spielmaterialien und Spielformen bevorzugten. Sie erlau­ben aber keine Aussagen über die Fre­quenz, Dauer und Qualität der ausge­führten Spielhandlungen oder des Ge­brauchs bestimmter Spielmaterialien. Beispielsweise ergaben sich im grob­motorischen Bereich(z.B. toben, klet­tern oder Dreirad fahren) keine Unter­schiede zwischen blinden und sehenden Kindern hinsichtlich der Anzahl der Kin­der, die diese Spielaktivität zeigten. Den­noch muß man davon ausgehen, daß sich blinde und sehende Kindererheblich hin­sichtlich der Frequenz(wie häufig wird die Spielaktivität gezeigt), der Dauer(wie lange wird die Spielaktivität gezeigt) und hinsichtlich der Qualität(in welchen Formen wird die Spielaktivität gezeigt)

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Spiele und Spielmaterialien blinder und sehender Kinder

unterschieden. Erst bei Berücksichtigung dieser Aspekte erhält man einen umfas­senden und detaillierten Überblick über die quantitativen und qualitativen Unter­schiede im Spielverhalten blinder und sehender Kinder. Diese Aspekte sollen in weiteren Untersuchungen erhoben wer­den.

Hauptbefunde

Drei wesentliche Ergebnisse der vorlie­genden Untersuchung lassen sich her­vorheben:(1) Die Altersunterschiede zwi­schen blinden und sehenden Kindern hin­sichtlich des Erwerbs einzelner Spielni­veaus.(2) Die geringen Spielaktivitäten blinder Kinder mit anderen sehenden Kindern oder Geschwistern.(3) Die blindheitsspezifische Verwendung und Handhabung von Spielmaterialien.

Spielniveau blinder und sehender Kin­der. Blindheit führt zu einem verlang­samten Erwerb der mit steigendem Lebensalter komplexer werdenden kind­lichen Spielformen. Betrachtet man das erreichte Spielniveau als Ausdruck der sensomotorischen, kognitiven und sozi­al-emotionalen Fähigkeiten eines Kin­des, so weisen die Befunde auf deutliche Entwicklungsrückstände blinder gegen­über sehenden Kindern hin. Die Aneig­nung kindgemäßer Umwelterfahrungen über spielerische Aktivitäten scheint bei blinden Kindern in den ersten Lebens­jahren deutlich erschwert. Der Grund dürfte einerseits in der Bedeutung des Gesichtssinns für den spielerischen Um­gang mit Materialien und andererseits im Fehlen geeigneten Spielmaterials für blin­de Kinder liegen.

Spielaktivitäten blinder Kinder mit sehenden Kindern. Die geringen Spiel­aktivitäten blinder Kinder mit sehenden Kindern wirft die Frage auf, ob Blinde eventuell weniger Gelegenheiten zum Spiel mit anderen Kindern haben, da sie weniger Geschwister als sehende Kinder haben oder seltener Einrichtungen besu­chen, wosie mit anderen Kindern spielen können. Die Fragebogendaten ergaben keine bedeutsamen Unterschiede zwi­

schen blinden und sehenden Kindern bezüglich der beiden genannten Aspek­te. Offensichtlich haben blinde Kinder trotz vorhandener Gelegenheiten tat­sächlich seltener als sehende Kinder spie­lerische Interaktionen mit Geschwistern oder anderen Kindern. Die Ursache für die geringe Anzahl von Spielaktivitäten zwischen blindem Kind und sehenden Kindern liegt in der Dominanz des Ge­sichtssinns für die meisten kindlichen Spiele. Geschwister und andere sehen de Kinder können sich offensichtlich schlecht dem Spielvermögen des blinden Kindes anpassen und das blinde Kind ist überfordert, die Spiele sehender Kinder mitzumachen.

Blindheitsspezifisches Spielverhalten. Blinde Kinder zeigten erwartungsgemäß blindheitsbedingte Einschränkungen im Gebrauch von Spielmaterialien, deren Handhabung visuell-manuelle Fertigkei­ten voraussetzen. Sie bevorzugten Spiele und Spielmaterialien, die taktil oder aku­stisch einen interessanten Effekt für sie bewirkten. Typische Spiele blinder Kin­der waren das taktile Explorieren von Gegenständen und Umgebungen(z.B. Wände oder Möbel), das Produzieren von Geräuschen und körperbezogene Schmusespiele. Sehende Kinder dage­gen bevorzugten visuell-manuelle Spiel­aktivitäten wie das Anschauen von Bil­derbüchern oder Bauen, Malen und Ba­steln.

Einige blindheitsspezifische Besonder­heiten in der Wahl von Spielmaterialien und-aktivitäten sollen besonders hervor­gehoben werden: Blinde Kinder bevor­zugten altersmäßig länger als sehende Kinder reale Objekte(z.B. alltägliche Gebrauchsgegenstände oder Naturmate­rialien) für ihr Spiel. Offenbar haben reale Objekte für blinde Kinder eine grö­ßere Prägnanz als Symbolspielzeuge wie Autos oder Puppen, die bevorzugt von sehenden Kindern für ihr Spiel verwen­det werden. Blinde Kinder haben offen­sichtlich Schwierigkeiten, Autos oder Puppen als Miniaturen von realen Objek­ten oder Personen zu erkennen, da diese Symbolspielzeuge meist nur eine opti­sche und keine taktile oder auditive Ähn­lichkeit mit den konkreten Personen oder

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIII, Heft 1, 1992