Michael Schwager* Reden über Euthanasie
Ethik[zu erfassen sucht— M.S.], der als Meßlatte eine strenge prinzipien-fundierte Ethik zur Seite gestellt wird”(v. Loewenich 1991, 136):“Alle Entscheidungen, für oder gegen den Erhalt des Lebens, sind mit dem Risiko belastet, falsch zu sein und den Entscheidenden schuldig werden zu lassen. Dieses Faktum muß der Behandelnde stets vor Augen behalten, es muß ihn bedrücken, und er muß bereit sein, diese Last zu akzeptieren. Stellt sich bei ihm Zufriedenheit mit seinen Entscheidungen ein, wird er möglicherweise gefährlich”(ebd., 146). Auch soist die Gefahr falscher oder unbedachter Entscheidungen nicht ausgeräumt. Vielleicht eröffnet sich so aber die Möglichkeit, zwischen Tatsachenfragen z.B. der Lebenserwartung, der Auswirkungen bestimmter Handlungen oder auch der medizinischen Entwicklung und zwischen ethischen Fragen z.B. nach dem Tötungsverbot oder nach der Berechtigung von Eingriffen in menschliches Leben und Sterben stärker zu unterscheiden, als dies im bisherigen Verlauf der Debatte der Fall ist.
In jedem Falle kann es, auch im Anschluß an das Buch von Hegselmann und
Literatur
Merkel und entgegen der Befürchtungen vieler Behindertenpädagogen, keinesfalls als sicher gelten, daß die neuerliche Debatte über Euthanasie zwangsläufig zu einer Rechtfertigung bestimmter Formen der Euthanasie führen muß(vgl. Wittmann 1991, 272).
Schlußbemerkungen
Durch das Buch‘Zur Debatte über Euthanasie’ bleiben viele Fragen letztlich ungeklärt, wobei dies von den Autoren auch durchaus zugestanden wird. Nicht nur, aber auch wegen Singer muß diese Debatte geführt werden, und sie wird auch geführt— trotz der gegenteiligen Bemühungen nicht zuletzt namhafter Vertreter der Behindertenpädagogik. Angesichts der peinlichen Begleitumstände dieser Debatte ist allerdings mit Singer(1991b, 40) zu befürchten, daß insbesondere materiell nicht abgesicherte Forscher zukünftig vor diesem Thema zurückschrecken. Für die Behindertenpädagogik würde dies bedeuten, daß sie den zumindest seit Hanselmann(1941, 35ff., 45ff., 165f.) erhobenen Stellvertre
tungsanspruch für sämtliche, d.h. nicht nur für die direkt pädagogischen, Belange behinderter Menschen nicht einlöst, da die Einlösung dieses Anspruches nicht darin liegen kann, innerhalb der Behindertenpädagogik zu einem Konsens zu kommen, sondern da seine Einlösung nur in der Teilnahme an der Erstellung eines allgemeinen Konsens’ liegen kann. Dies wiederum setzt auch die Auseinandersetzung mit unbequemen und kontroversen Auffassungen voraus, wobei nicht oft genug darauf hingewiesen werden kann, daß die argumentative Auseinandersetzung mit kontroversen Annahmen nicht die Anerkennung der Wahrheit oder Richtigkeit dieser Annahmen, wohl aber die Anerkennung des Kontrahenten als eines Argumentierenden voraussetzt. Wie dies bereits Tugendhat(1991) in seiner erwähnten‘Zeit’-Kritik feststellt, ist die Überschrift des in der‘New York Review of Books’ erschienen Aufsatzes von Singer(1991b)‘On Being Silenced in Germany’ auch für die Behindertenpädagogik“ein treffender, uns beschämender Titel”,
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