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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Michael Schwager* Reden über Euthanasie

KA

Tugendhat(1991) in seiner Besprechung des Buches von Hegselmann und Merkel formuliert, Recht zum Sterben.

3) Praktisch bedeutsam scheint zudem ein Gesichtspunkt zu sein, der in dem Buch und soweit ich sehe in der ge­samten Debatte nur am Rande angespro­chen wird. So verweist Birnbacher(1991) aus konsequentialistischer Perspektive darauf, daß die Befürchtungen seitens der Vertreter der Krüppelbewegungen insofern ernst zu nehmen sind, als sich hier Gruppen von zumindest virtuell Betroffenen zu Wort melden, für die die Tendenz der Euthanasie Debatte wenn auch nicht unbedingt direkt bedrohlich, so zumindest doch diskrimi-nierend ist. Ausgespart werden allerdings in nahezu auffälliger Weise die Angehörigen und speziell im Falle der Früheuthanasie die Eltern als einer Gruppe von direkt Be­troffenen. Singer erhebt zwar den An­spruch einer Stärkung der Elternbeteili­gung. In Verbindung mit seiner Befür­wortung gewisser Formen der Euthana­sie wird aber ebenso wie durch das Bei­spiel Merkels von der den für das Kind mit Hydrozephalus lebensrettenden Kaiserschnitt verweigernden Schwange­ren(Merkel 1991, 104ff) und durch den Hinweis v. Loewenichs auf dienicht ge­rade seltenene und von den Elternwie ein Rechtsanspruch vorgetragene Forde­rung nach dem perfekten(Einzel-) Kind (v. Loewenich 1991, 141) der Eindruck erweckt, als ob die Eltern zumindest im Falle einer vorgeburtlich diagnostizierten Behinderung tendentiell zu den Befür­wortern der Kindestötung gehören.

Nun läßt sich vermutlich bei der Diagno­se einer Behinderung weder der Schmerz noch der Wunsch der Eltern negieren, dieses Faktum rückgängig zu machen. Zugleich muß aber berücksichtigt wer­den, welche Entscheidung von den El­tern eigentlich verlangt wird. Es geht nicht wie bei der vorher nicht diagno­stizierten Geburt eines behinderten Kin­des darum, das Faktum einer Behinde­rung zu akzeptieren. Es geht vielmehr darum zu entscheiden, ein Kind mit einer Behinderung zur Welt zu bringen oder nicht. Wenn man berücksichtigt, daß es

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ein Merkmal menschlichen Handelns ist, einen alsgut angesehenen Zustand her­beiführen zu wollen, dann kanngut in Hinsicht auf einen Kindeswunsch um Mißverständnisse zu vermeiden: nicht hinsichtlich eines bereits geborenen Kin­des nur nichtbehindert heißen, weil Behinderungen immer mit Einschrän­kungen der Lebensmöglichkeiten von Kindern und Eltern einhergehen. Daß die Entscheidung in diesem Falle tendentiell eher in Hinsicht auf die Abtreibung fällt, ist zumindest nachvollziehbar.

Diese Entscheidung ist aber nicht nur aufgrund einer Berücksichtigung psy­chologischer Aspekte nachvollziehbar, sondern sie ist aufgrund der Logik der Entscheidungssituation bereits determi­niert, so daß von einer freien oder ratio­nalen Entscheidung nicht die Rede sein kann. Die in diesem Falle verlangte Ent­scheidung ist dadurch gekennzeichnet, entweder einnicht(so) gutes Ziel(die Geburt des behinderten Kindes) als er­strebenswertes Ziel anzuerkennen, oder dieses Ziel preiszugeben. Hierdurch wird der(auf das nichtbehinderte Kind ausge­richtete) Kindeswunsch insofern perver­tiert, als die Eltern vor der Alternative stehen, entweder durch das Wollen eines behinderten Kindes eine Einschränkung nicht nur der Realisierung, sondern des Wunsches selber zu akzeptieren, oder diesen Wunsch durch eine Abtreibung als einen zumindest gegenwärtig nicht realisierbaren Wunsch scheinbar uneingeschränkt aufrechtzuerhalten. Es wird suggeriert, daß sich die Eltern noch einmal aufgrund der Abwägung vernünf­tiger Gründe und einer freien Willens­bildung nicht für die Annahme ihres Kin­des, sondern für oder gegen die Realisie­rung des Kindeswunsches entscheiden könnten, wobei dieguten Gründe scheinbar eindeutig für einen Schwan­gerschaftsabbruch sprechen. Die mögli­che Entscheidung für die zweite Alterna­tive ist nur schwer zu begründen, zumal sich die Eltern in diesem Falle auch zukünftig zumindest untergründig im­mer dem Einwand ausgesetzt sehen müs­sen, die möglichen Einschränkungen und eventuell auch das mögliche Unglück­lich-Sein ihres Kindes und seiner Fami­lie gewollt zu haben.

Bezogen auf die Euthanasie Debatte be­deutet dies, daß in weitaus stärkerem Maße als dies bisher geschieht nach einer Rechtfertigung der diese Debatte erst ermöglichenden und erforderlich ma­chenden medizinischen Entwicklungen gefragt werden muß. Einerseits schaffen diese Entwicklungen ein Wissen, wel­ches zumindest auch therapeutische Möglichkeiten eröffnet. Andererseits werden Betroffene durch diese Entwick­lungen auch zu Entscheidungen genö­tigt, die nicht unbedingt als frei und auch nicht unbedingt als rational zu charakte­risieren sind.

4) Wenn man davon ausgeht, daß Ethik dazu dient, bestimmte Handlungen als gut oder alsschlecht auszuzeichnen, dann dienen ethische Debatten und mo­ralische Aufklärung der Begründung die­ser Auszeichnungen. Wenn man weiter­hin zugesteht, daß der mögliche Damm­bruch oder zumindest die Infragestellung als sicher geglaubter Annahmen zum Thema Euthanasie nicht durch die The­sen Singers, sondern durch die Entwick­lung der Medizin verursacht wurde, dann ist es sicherlich auch unumgänglich, die­ses Thema zu diskutieren. Fraglich ist al­lerdings, obes Aufgabe der Ethik ist, eine derartige Entwicklung zu rechtfertigen und die aus dieser Entwicklung resultie­renden Entscheidungen alsgut auszu­zeichnen. Es ist mit anderen Worten frag­lich, ob es tatsächlich notwendig und sinnvoll ist, die aus dieser Entwicklung gegebenenfalls notwendigerweise resul­tierenden Entscheidungen für eine wie auch immer verstandene Euthanasie als rational oder als auch im Interesse des direkt Betroffenen und als ethisch ver­tretbar zu rechtfertigen. Es besteht viel­mehr auch die Möglichkeit, diese Ent­scheidungen als gegebenenfalls notwen­dig, nicht aber als ethisch rechtfertigbar zu akzeptieren. In diesem Falle hat das Tötungsverbot weiterhin eine kontrafak­tische Funktion, welche wissend um Fehlbarkeit und um Unvollkommenheit die Zielrichtung menschlichen Han­delns erfaßt. In diese Richtung scheinen auch v. Loewenichs Überlegungen zu gehen, wenn er die medizinische Ethik alseine Synthese aus einer Erfahrungs­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL, Heft 2, 1992