Erfolg führten und so die ursprüngliche Prognose wiederlegten. Bezogen auf die Behindertenpädagogik ist die Situation in Hinsicht auf die Erziehung Schwerstbehinderter insofern vergleichbar, als versucht wurde, diese Menschen trotz einer prognostizierten Bildungsunfähigkeit zu bilden, wobei sich dann zeigte, daß ihre systematische Erziehung entgegen der Erwartungen Erfolge zeigte. Die angenommene Sinnlosigkeit eines Unterfangens beruhte auf einem Vorurteil, welches durch die Erfahrung widerlegt werden konnte. Es ist nun zwar grundsätzlich fraglich, welchen Status derart empirische Argumente innerhalbethischer Debatten überhaupt haben können. Bei ihrer Anwendung ist aber gegebenenfalls auch die Behindertenpädagogik gefordert, ihr Wissen um die Entwicklungsmöglichkeiten von z.B. Schwerstbehinderten einzubringen. Voraussetzung ist aber auch hier, daß dieses Wissen einer kritischen Prüfung standhält, so daß die Behindertenpädagogik in jedem Falle ihre Vernunftfeindlichkeit, die sich ja nicht erst in der gegenwärtigen Euthanasie-Debatte, sondern die sich bereits in dem ebenfalls durch Anstötz initiierten Streit um den Wissenschaftscharakter der Behindertenpädagogik ausgedrückt hat(dazu: Schwager 1990, 305ff.), überwinden muß. Gerade der Hintergrund der letztlich eine argumentative Hilflosigkeit ausdrückenden Reaktionen auf die Euthanasie Debatte sollte in der Behindertenpädagogik aber auch Anlaß zu der grundsätzlichen Frage sein, ob es ihr bisher überhaupt gelungen ist, ihre Anliegen vernünftig zu rechtfertigen, oder ob nicht auch hier erhebliche Begründungsdefizite zu verzeichnen sind. Vielleicht gibt Anstötz tatsächlich mit seinen unter Berufung auf Singer erfolgenden, wenn auch eher kryptischen Begründungsansätzen (Anstötz 1991a, 298f.; vgl. 1990, 1 14ff.) den Anstoß zu weiteren, dringend überfälligen Debatten, wobei die Behindertenpädagogik schlecht beraten wäre, diese Ansätze ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Euthanasie Debatte zu sehen. Offensichtlich ist hinsichtlich der Lebensumstände behinderter Menschen tatsächlich ein Dammbruch erfolgt. Er zeigt sich darin, daß die von der Öffent
lichkeit im deutschsprachigen Raum als Reaktion auf den Nationalsozialismus gewährte Schonfrist für sämtliche Aktivitäten in diesem Bereich beendet ist. Wie jede andere Aktivität müssen sich auch diese Aktivitäten vernünftig rechtfertigen und begründen lassen.
Offene Fragen
Das Buch‘Zur Debatte über Euthanasie’ ist auch für Behindertenpädagogen in mehrfacher Beziehung lesenswert und überfällig: Zum einen wird nachdrücklich gezeigt, daß die Euthanasie-Problematik in ihrer aktuellen Lesart den Rahmen des moralischen Alltagsbewußtseins sprengt, und daß der Versuch, die angesprochenen Fragestellungen unter Verwendung intuitiver Annahmen zu klären, häufig in einen Dogmatismus führt, der niemandem gerecht wird. Eine Klärung dieser Fragen ist zudem überfällig, weil die diesbezüglichen Entscheidungen bisher in einem gleichsam rechtfertigungsfreien Raum getroffen werden. Es ist ein Verdienst Singers und auch Anstötz’, auf diesen Umstand— wenn auch mehr oder weniger unfreiwillig— öffentlichkeitswirksam hingewiesen zu haben. Eine Klärung dieser Fragen kann nur über das vernünftige Abwägen vernünftiger Gründe erfolgen, wobei es bisher allerdings wohl kaum absehbar ist, wie ein zu erzielender Konsens inhaltlich beschaffen sein könnte. Als Vorbedingungen einer derartigen Konsensbildung bleiben aber auch im Anschluß an dieses Buch eine Reihe von Fragen ungeklärt:
1) Es fällt auf, daß mit Ausnahme von Singer und Kuhse selbst in praktisch sämtlichen Aufsätzen eine eher kritische Position zu den Singerschen Begründungen bezogen wird, wobei insbesondere die von Jean Claude Wolf(1991) und ähnlich von Birnbacher(1991, 34) und Wittmann(1991, 249ff.) geäußerten Zweifel an der Konsistenz seiner Argumentationen von Bedeutung sind, da mit diesen Zweifeln der Anspruch einer rationalen Begründung steht und fällt. Auffällig ist weiterhin, daß ein grundsätzlicher Argumentations oder Handlungsbedarf hin
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII Heft 2, 1992
Michael Schwager* Reden über Euthanasie
sichtlich des Themas Euthanasie weder durch Birnbacher aus utilitaristischer Perspektive noch von v. Loewenich aus medizinischer Perspektive, sondern ausschließlich aus der eher prinzipiell zu verstehenden Perspektive moralischer Aufklärung(Hegselmann 1991) und aus strafrechtsdogmatischer Perspektive (Merkel, 1991) angemeldet wird. Beruht die ganze Debatte über Euthanasie also auf einer Rechtsunsi-cherheit bzw. auf der“Klagefreudigkeit des Publikums” (v. Loewenich 1991, 141) oder beruht sie darauf, daß sie nun einmal zum Thema geworden ist, und deshalb auch geführt werden muß? Dies ist vermutlich zu einfach. Es könnte aber sein, daß die Singersche Suche nach verallgemeinerbaren Entscheidungshilfen der Komplexität des Themas nicht gerecht wird.
2) Die gesamte Euthanasie-Debatte verläuft unabhängig von ihrem möglichen Ausgang sehr unbefriedigend. Sie ist unter anderem deshalb unbefriedigend, weil bereits heftig umstritten ist, in welchen Fällen sich das Problem möglicher Euthanasie überhaupt stellt. Unter Anderem stellt sich mit Wittmann(1991,258ff., 272) aber auch die Frage, ob hier überhaupt eine Debatte um Euthanasie geführt wird. Wenn es zutrifft, daß sich das Problem im eindeutigsten Falle bei Menschen stellt, die in absehbarer Zeit auch ohne Euthanasie sterben müssen, dann könnte es.sein, daß sich das zugrundeliegende Problem als ein empirisches Problem von Zeitfaktoren erweist, während es bei der ethischen Debatte um Tötungshandlungen um den Unterschied zwischen einem zeitlich fixierbaren und einem zeitlich nicht vorhersagbaren Tod geht. Es ist die Frage, ob diese beiden Varianten des Tötungsproblemsethisch überhaupt gleichbedeutend sind, oder ob die Diskussion der erstgenannten Variante nicht auf einer Verwischung des Unterschiedes zwischen der empirisch abzuklärenden Lebensfähigkeit und der ethisch bedeutsamen Lebensqualität beruht. In diesem Falle liegt das eigentliche Problem in der bisher nicht hinreichend geklärten Unterscheidung zwischen einer als Euthanasie zu charakterisierenden Tötungshandlung und dem, wie es
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