Michael Schwager* Reden über Euthanasie
schen Singer-Kritikern zeigt allerdings, daß diese versuchen, einen anderen Weg zu gehen, der sich nur als eine Art‘lautstarkes Schweigen’ charakterisieren läßt.
Die Debatte in der Behindertenpädagogik
So zeigt Anstötz in seiner Auseinandersetzung mit sonderpädagogischen SingerKritikern, daß diese Kritiker praktisch gegen sämtliche Regeln des Umgangs mit Dammbruch-Argumenten und des vernunftorientierten Argumentierens verstoßen. Im Bereich der Behindertenpädagogik herrschen von Anstötz umfangreich dokumentierte Versuche der moralischen Abqualifizierung Singers und seiner Position(Anstötz 1991a, 279ff.) und Tabuisierungsversuche(ebd., 299ff.) vor, welche ihrerseits durch die gebetsmühlenartige Wiederholung eines kleinen Kanons von aus dem Kontext gerissenen Zitaten begründet werden sollen (ebd., 287ff.). Nun läßt sich zwar über Methoden und Rationalitätskriterien textkritischen Arbeitens trefflich streiten. Wenn die Euthanasie-Problematik allerdings entgegen der ausdrücklich von Singer formulierten Einschränkungen auf sämtliche(Schwerst-) Behinderte verallgemeinert und beispielsweise unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Singer als ‘neue Behindertenfeindlichkeit’(Theunissen 1989, 673)(fehl-)interpretiert wird, oder wenn angebliche Zitate Singers ungeprüft und fälschlicherweise als von ihm stammend ausgegeben werden(vgl. dazu die Untersuchung Hegselmanns (1991, 214ff.)), dann ist dies ein gravierender Verstoß gegen grundlegende Regeln textkritischen Arbeitens, welcher vermutlich bereits in Proseminararbeiten auch von den Autoren in ihrem vielfach ausgeübten Beruf als Professor geahndet würde.
In dieser Beziehung kann auch das als argumentative Rückzugsposition fungierende öffentliche Eingeständnis der eigenen Unwissenheit dann nicht nur als begrüßenswerte Wahrhaftigkeit gelten, wenn dieses Eingeständnis, wie dies Anstötz(1991a, 283, 288, 290) am Beispiel des diesbezüglichen Zugeständnisses
94
Feusers(1989, 293) aufzeigt, gleichzeitig mit scheinbar souveränen Kritiken an Singer einhergeht. Die Verbindung scheinbar souveräner Kritik und des Eingeständnisses der eigenen Unwissenheit leistet im Grunde nur der argumentativen Willkür Vorschub, die spätestens dann zum Tragen kommt, wenn in der (Selbst-)Rezeption die ursprüngliche Kritik scheinbar unbeschadet wieder aufgenommen wird. Daß Feuser in dieser Beziehung kein Einzelfall ist, läßt sich beispielsweise auch an Bleidick zeigen. Nachdem dieser 1990 in einem Vortrag in Aachen unter Verwendung einer Fülle von philosophischen Entlehnungen versucht hat zu zeigen, daß die Thesen Singers“in mehrfacher Hinsicht ohne wissenschaftlichen Wert” seien(Bleidick 1990, 517), nimmt er seine Ausführungen in Erwiderung auf eine diesbezügliche Kritik von Anstötz(1991b) dahingehend zurück, daß er sie auf eine“Auftragsarbeit”(Bleidick 1991a, 258) herabstuft, daß er selbst sich bisher nicht mit dieser Form des Philosophierens auseinandergesetzt habe(ebd., 261) und daß er als Nichtphilosoph nicht dazu qualifiziert sei, den philosophischen Hintergrund der Debatte zu beurteilen(ebd., 258). Faktisch gesteht Bleidick zu, daß er die Singerschen Thesen und ihre Begründung nicht beurteilen kann. Diese Eingeständnisse hindern ihn allerdings nicht daran, sich 1991 in einem Vortrag in Würzburg auf seine Aachener Ausführungen als eine‘unmißverständliche Stellungnahme’ zu diesem Themenkomplex zu berufen(Bleidick 1991b, 587f.). Charakteristisch für diese Stellungnahme scheint allerdings eher zu sein, daß sie mißverständlich ist. Im Grunde setzten mit Bleidick und Feuser zwei bekannte Vertreter der Behindertenpädagogik ihr Renommee mehr als leichtfertig aufs Spiel.
Tatsächlich scheint ein Problem der deutschsprachigen Behindertenpädagogik darin zu liegen, daß der als Reaktion auf die nationalsozialistischen Greuel entstandene faktische Konsens hinsichtlich eines allgemeinen Tötungsverbotes unzulässigerweise mit einem begründeten Konsens gleichgesetzt wurde:“Bestimmte ethische Probleme, etwa der Euthana
sie, besaßen nicht zuletzt aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland den Anschein, als wäre klar, was ethisch richtige und was ethisch falsche Lösungen sind. Gerade Antworten auf Fragen in diesem Kontext schienen so eindeutig und so unumstritten, daß es überhaupt keinen Anlaß für irgendwelche Diskussionen darüber gab”(Anstötz 1991a, 278). Weil dieses Diskussionen nicht stattgefunden haben, war es auch nicht notwendig, nach vernünftigen Argumenten gegen bestimmte Formen der Euthanasie zu suchen. Wie die gegenwärtige SingerDebatte allerdings zeigt— und diesbezüglich können die Ausführungen von Anstötz als eine nachdrückliche Bestätigung seiner bereits an anderer Stelle veröffentlichten Ausführungen(Anstötz 1990, 41ff.) gelten—, ist die Behindertenpädagogik aufgrund dieses Hintergrundes bisher in ihren maßgeblichen Strömungen nicht in der Lage, mögliche Gründe in vernünftiger Weise dann anzuführen, wenn dieser Konsens, wie dies zur Zeit geschieht, hinterfragt wird:“Was den Standpunkt rationalen Argumentierens in der sonderpädagogischen Ethik betrifft, so liegt man nicht falsch, diese Disziplin als Diaspora zu beschreiben” (Anstötz 1991a, 278).
Daß es solche vernünftigen Gründe geben könnte wird offenbar, wie dies auch Wittmann(1991, 252) angesichts der stark emotionalisierten Ablehnung Singers vermutet, von vielen Vertretern der Behindertenpädagogik insgeheim bezweifelt. Dabei zeigt z.B. v. Loewenich eine Argumentationsfigur auf, die sich gegebenenfalls auf die Behindertenpädagogik übertragen läßt: Gegenüber dem, zur Begründung der Entscheidung für eine Euthanasie dienenden, Operieren mit Prognosen über die(Nicht-)Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen mit bestimmten Schädigungen verweist er (v. Loewenich 1991, 142ff.) darauf, daß der medizinische Fortschritt durch die Nichtbeachtung dieser Prognosen zustande gekommen ist. So wurden beispielsweise bestimmte Maßnahmen der Behandlung von Kindern unterhalb eines ursprünglich als letal eingeschätzten Geburtsgewichtes eingeleitet, die zum
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1992