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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Michael Schwager* Reden über Euthanasie

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rung sieht er aber einerseits in der Zerstö­rung derStringenzillusion, daßman [...] über ein moralisches Weltbild[ver­füge M.S.], das auch nur einigermaßen umfassend, transparent, widerspruchsfrei und plausibel fundiert sei(ebd., 202). Andererseits zerstöre moralische Auf­klärung dieMaximierbarkeitsillusion, welche sich darin äußert,daß wir selbst dann, wenn wir entschlossen wären, wirk­lich alles zu tun, was moralisch in einzel­nen Hinsichten wünschenswert wäre, dies insgesamt nicht vermöchten(ebd., 203). Wenn man das Tötungsverbot also unter dem Gesichtspunkt seines Charakters als mögliches Tabu betrachtet, dann spricht einiges dafür, dieses Tabu aufzuheben. Betrachtet man es hingegen unter dem Gesichtspunkt seiner möglicherweise po­sitiv zu bewertenden handlungsregulie­renden Funktion, dann ist bereits die Infragestellung dieses Tabus unabhän­gig von dem Ergebnis dieser Infrage­stellung zu kritisieren, weil möglicher­weise bereits durch die Infragestellung eine positiv zu bewertende Praxis in eine negativ zu bewertende Praxis überführt werden könnte. Diese Annahme liegt sowohl den nicht-argumentativen als auch den argumentativen Protesten gegen die Singersche Position zugrunde, wobei derartige Annahmen auch als Schiefe­Bahn- bzw. Dammbruch-Argumente be­zeichnet werden:Im Kern bestehen sol­che Argumente in der belegten Behaup­tung, daß eine Praxis dieser oder jener Art, die auf den ersten Blick relativ harm­los, naheliegend und vielleicht sogar ver­führerisch attraktiv sei, nach Etablierung zwangsläufig und unaufhaltbar Folgen und Weiterungen zeitigen müsse, die moralisch katastrophal sind(Hegsel­mann 1991, 206). Die auch in der sonder­pädagogischen Literatur zu diesem The­ma explizit oder implizit vielfach in An­spruch genommenen Dammbruch-Argu­mente dienen also dazu, Debatten über moralische Fragen zu verhindern oder abzubrechen, wobei es gegebenenfalls auch gerechtfertigt sein könnte, zu die­sem Zweck nicht-argumentative Mittel einzusetzen.

Als Argumente sind diese Annahmen aber mit einigen Schwierigkeiten ver­bunden, die Hegselmann in Form von

sechsFaustregeln für den Umgang mit Schiefe-Bahn-Argumenten skizziert (Hegselmann 1991, 208f.): Die Behaup­tung einer schiefen Bahn allein ist noch kein Argument(R1). Vielmehr muß die Behauptung als Argument begründbar sein, wobei es erforderlich ist,minde­stens Indizien angeben[zu M.S.] kön­nen und den Mechanismus des Ins-Rut­schen-Kommens auf Basis möglichst gu­ter psychologischer und gesellschafts­wissenschaftlicher Theorien zu skizzie­ren(R2(ebd., 208)). R1 und R2 sind für die Forderung nach einem Abbruch oder nach dem Nicht-Führen einer Debatte als der radikalsten Form des Dammbruch­Argumentes insofern besonders wichtig, weil diese Forderung zwar konsequen­terweise die Weigerung impliziert, an dieser Debatte teilzunehmen(andernfalls wird diese Debatte ja bereits geführt), weil sie aber den Fordernden nicht von der Verpflichtung enthebt, die Berechti­gung seiner Forderung zu begründen. Da in diesem Falle die Auffassung vertreten werden muß, daß bereits das Führen ei­ner Debatte unabhängig von ihrem Er­gebnis eine Verschlechterung der Praxis bewirkt, kann sich die Begründung die­ser Forderung nicht auf die Inhalte ein­zelner Positionen zu dieser Debatte stüt­zen, sondern sie muß den Nachweis füh­ren, daß allein das Führen einer derarti­gen Debatte tatsächlich die angenomme­nen negativen Auswirkungen hat.

Ein derartiger Nachweis wird nun viel­fach in dem Verweis auf das Euthanasie­Programm der Nationalsozialisten gese­hen, welches seinerseits durch Euthana­sie-Debatten vorbereitet und rationali­siert wurde. Sollte dieser Verweis be­rechtigt sein, dann ließen sich insbeson­dere die nicht-argumentativen Formen des Protestes gleichsam als eine ArtLehre aus der Geschichte rechtfertigen. Zu­gleich wird aber mit diesem Verweis ein Problem der radikalen Form der Verwen­dung von Dammbruch-Argumenten deut­lich. Sie lassen sich in dieser radikalen Form nicht verwenden, weil beispiels­weise auch die Berechtigung dieses Ver­weises begründet werden muß. Dies wie­derum ist aber nur durch eine Bezugnah­me auf die Inhalte der Debatte möglich. Damit nimmt aber auch derjenige, der

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1992

ein Dammbruch-Argument vorbringt, unweigerlich an der Debatte teil, wobei ihm jetzt als einer milderen Form des Dammbruch-Argumentes nur noch die Möglichkeit bleibt, Veränderungen des Status quo abzulehnen. Da diese Ableh­nung aber ihrerseits begründbar sein muß, hat der Argumentierende mit dem Dammbruch-Argument weitere Begrün­dungsverpflichtungen übernommen, wel­che Thema der übrigen Regelformulie­rungen Hegselmanns sind. So läßt sich die Ablehnung einer Veränderung mora­lischer Auffassungen sinnvollerweise nicht durch den Vergleich ausschließlich positiver Aspekte der gegenwärtigen Pra­xis mit den negativen Aspekten der refor­mierten Praxis begründen(R3). Ferner sollte bei dem Verweis auf Mißbrauchs­möglichkeiten bedacht werden, ob diese Möglichkeiten nicht auch in der gegebe­nen Praxis möglich sind(R4), und obsich die Mißbrauchsmöglichkeiten nicht auch anderweitig einschränken lassen(RS). Nicht zuletzt sollte jeder, der derartige Argumente verwendet,dies in einer Weise tun, in der jederzeit klar ist, daß seine Argumentation selbst dann, wenn sie einen schlagenden Einwand gegen einen moralischen Reformvorschlag lie­fert, damit weder Argument noch be­rechtigter Anlaß für die moralische Her­absetzung dessen ist, der den Vorschlag zur Diskussion stellte(R6(Hegselmann 1991, 209)).

Mit diesen Regelformulierungen skiz­ziert Hegselmann nicht nur Regeln der Verwendung von Dammbruch-Argumen­ten, sondern er formuliert Regeln der vernünftigen Auseinandersetzung, wel­che und dies ist das Dilemma der mit derartigen Argumenten operierenden Singer-Kritiker unumgänglich ist. Es gibt nur die Alternative, entweder das Dammbruch-Argument ernst zu nehmen und die entsprechende Debatte durch Nichtteilnahmetotzuschweigen, oder an der Debatte gegebenenfalls mit dem Ziel einer Erhaltung des Status quo teil­zunehmen. Letzteres macht die Aner­kennung grundlegender Regeln vernünf­tiger Argumentation zwingend erforder­lich. Die Auseinandersetzung der Auto­ren des Sammelbandes mit den philoso­phischen und mit den sonderpädagogi­

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