Michael Schwager* Reden über Euthanasie
erfolgten Aufhebung seiner Notwendigkeit rechtfertigen kann.
Wegen dieser Veränderungen der zugrundeliegenden Problemstellungen und wegen der diese Veränderungen verursachenden medizinischen Entwicklungen stellt sich aber grundsätzlich die Frage, inwieweit die Diskussion dieser Fragen überhaupt den Charakter einer Debatte um ethische Fragen hat, und welche Voraussetzungen der potentielle Teilnehmer an dieser Debatte mitbringen muß, um kompetent an ihr teilnehmen zu können.
In diese Richtung zielt v. Loewenichs Feststellung, daß dieses Thema als kontrovers diskutiertes Thema eher von nichtmedizinischer Seite in die Medizin hereingetragen wird,“während in medizinischen Zeitschriften die Spannbreite der Meinungen zu dieser Thematik eher schmal ist”(v. Loewenich 1991, 128). Hinzu komme ein gewisser Wandel der öffentlichen Meinung: Während bis vor kurzem eher die lebenserhaltenden Maßnahmen Gegenstand der Kritik waren, sehen sich Neonatologen und Intensivtherapeuten jetzt“auf einmal mit dem Vorwurf konfrontiert, sie vergriffen sich an menschlichem Leben, insbesondere an dem behinderter Neugeborener. Diese Anwürfe werden in der Regel um so heftiger vorgetragen, je uninformierter der Wortführer ist”(ebd.). Im Gegensatz zu diesen Anwürfen und ausdrücklich auch gegen Singer gerichtet betont v. Loewenich, daß“allen Verlautbarungen, die von anerkannten Ärzten stammen oder an denen solche Ärzte beteiligt waren, eines gemeinsam[ist— M.S.], nämlich die Ablehnung einer gezielten Lebensverkürzung durch aktive Eingriffe”(ebd., 142). Die Lebensverkürzung selbst ist als medizinische Maßnahme nicht gerechtfertigt. Sie darf aber“als Nebenwirkung einer leidensmindernden Behandlung in Kauf genommen werden, da die Minderung von Leiden hier das eigentliche Behandlungsziel ist”(ebd., 139). v. Loewenich sieht also aus medizinischer Sicht keine Entscheidungsmöglichkeit in Hinsicht auf Euthanasie. Der Tod ist vielmehr ausschließlich als eine, wenn auch gegebenenfalls vorhersehbare, Nebenwirkung anderer Ziele
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medizinischen Handelns in Kauf zu nehmen. Wenn sich aber für den Mediziner die Entscheidung zwischen Leben und Tod nicht so stellt, wie dies in der Euthanasie Debatte unterstellt wird, dann ist es folgerichtig, daß v. Loewenich das Problem der von Singer massiv als unnötiges Leiden mit sich bringenden medizinischen Praktiken(Singer et al. 1991, 161, vgl. 161-164) entweder als historisch— so im Falle der Nichtbehandlung bei einem Geburtsgewicht von unter 1000 g (v. Loewenich 1991, 145)— oder als Begleiterscheinung medizinischen Fortschritts— so im Falle der Behandlung von Kindern mit einer akuten lymphatischen Leukämie(ebd.)— diskutiert. Die Problematik dieser Behandlungsmethoden beruht für v. Loewenich im Unterschied zu Singer primär weniger auf ethischen, sondern auf medizinischen Erwägungen, indem es bei den diesbezüglichen Entscheidungen um eine individuell zu erstellende Prognose aufgrund der“Synopse aller medizinisch einholbaren Informationen” geht(ebd.). Für v. Loewenich ist die Frage der Euthanasie eine Entscheidung, die der Arzt aufgrund seines Fachwissens und unter Anwendung des“Instrumentarium[s] einer allgemeinen Ethik”(ebd., 147) nicht aber aufgrund einer eigenen Medizin-Ethik beantworten muß.
Führt diese enge Anbindung an das Fachwissen nun aber, wie Ursula Wolf in ihrer Diskussion des Verhältnisses von Philosophie und Öffentlichkeit fragt, dazu, daß analog zu der Spezialisierung des Wissens auch die Diskussion moralischer Fragen zunehmend nur noch von Fachleuten mit dem entsprechenden Spezialwissen diskutiert werden können?(U. Wolf 1991, 196(Anm. 4)) Problematisch wäre dies zumindest insofern, als die Betroffenen der so begründeten Entscheidungen in der Regel eben nicht(nur) die Fachleute sind. Die eindeutige Verneinung dieser Frage ist ein Ausgangspunkt der Arbeiten Singers. Es geht ihm darum, Verbrämungen einer tatsächlichen Euthanasie-Entscheidung den“Schleier herunterzureißen”(Singer et al. 1991, 157) und qualvolle Behandlungsmethoden auf ihre Rechtfertigung hin zu hinterfragen(ebd., 161f.). Damit ist das Euthanasie Thema für Singer kein Thema
ausschließlich für Spezialisten, zumal es ihm auch darum geht,“die Position der Eltern in diesen Situationen zu stärken, wir sagen, daß sie in Beratung mit den Ärzten in der Lage sein sollten, die Entscheidungen zu treffen”(ders., S. 165).
Die Unumgänglichkeit der Debatte
Nichtsdestoweniger bleibt natürlich auch in diesem Falle die gerade auch von sonderpädagogischer Seite gestellte Frage, ob nicht durch die von Singer geforderte Rechtfertigung bestimmter Fälle von Euthanasie ein— zumindest oberflächlich gesehen— allgemeiner Konsens unterminiert wird, welcher zwar gegebenenfalls den Charakter eines Tabus hat, welcher aber als Tabu dazu dient, Leben zu schützen. In der Antwort auf diese Frage liegt der Dissens, welcher zu den derart heftigen Reaktionen auf die Thesen Singers geführt hat. Einerseits wird mit dem Tabu als Tabu argumentiert, wobei auf dieser allgemeinen Ebene die Auffassung vertreten werden kann, daß die Infragestellung von Tabus zumindest auf lange Sicht positive Wirkungen zeitigt:“Vielleicht habe ich eine gewisse optimistische Grundeinstellung. Ich gehe davon aus, daß Licht auf eine Frage zu werfen im allgemeinen mehr Gutes als Schaden anrichten wird”(Singer et al. 1991, 159). In dieser Einstellung wird Singer insbesondere von Hegselmann gestützt, der den Zweifel am für unbezweifelbar Gehaltenen als Merkmal moralischer Aufklärung bestimmt:“Für die moralische Aufklärung bzw. eine Moralphilosophie ‚die sich ihr verpflichtet fühlt, ist charakteristisch, auch hinsichtlich dessen, was die allermeisten für unbezweifelbar und evident halten mögen, Fragen aufzuwerfen”(Hegselmann 1991, 201). Hegselmann gesteht nun ausdrücklich zu, daß häufig mit der Infragestellung bestimmter Annahmen noch keine vernünftigen Problemlösungen möglich sind (ebd., 203, 205), und er plädiert aus diesem Grunde in diesen Fällen für eine zeitweilige Entkoppelung der moralischen Reflexion vom Handeln(ebd., 205f.). Den Wert moralischer Aufklä
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1992