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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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sung von Hegselmann und Merkel kein anderer Ausweg als die Bereitschaftzu Revisionen auch an tiefsitzenden Intui­tionen(ebd., 18):Peter Singer und Helga Kuhse sind zu weitreichenden Re­visionen unseres angestammten morali­schen Weltbildes bereit. Darin muß man ihnen nicht folgen. Man sollte dann aber angeben, wie man auf die prekäre argu­mentative Lage, in der wir uns im Zu­sammenhang der Probleme von Sterben und Töten offenbar befinden, zu reagie­ren vorschlägt(ebd., 18).

Die inhaltliche Debatte um das Tötungs­verbot und damit auch um die Euthanasie muß also geführt werden, weil das Tö­tungsverbot selbst fragwürdig geworden ist. Der erste Aspekt der Euthanasie De­batte bezieht sich damit prinzipiell auf die Frage nach der allgemeinen Gültig­keitresp. nach möglichen Begründungen möglicher Einschränkungen des Tötungs­verbotes. Im Unterschied dazu bezieht sich der zweite Aspekt dieser Debatte speziell auf den Singerschen Versuch,

die von ihm geforderten Einschränkun­gen des Tötungsverbotes durch präfe­renz-utilitaristische Annahmen zu be­

gründen. Entgegen der vielfach von den Kritikern Singers unterstellten Notwen­digkeit einer Verknüpfung der von Singer postulierten Aufhebung des absoluten Tötungsverbotes mit der von ihm als Be­gründung angeführten Lesart des Utili­tarısmus fordern Hegselmann und Merkel hier die Unterscheidung des inhaltlichen Aspektes der Euthanasie-Debatte von dem Gesichtspunkt der philosophischen Begründung inhaltlicher Festlegungen: die meisten der von Peter Singer und Helga Kuhse vertretenen normativ-ethi­schen Thesen können zwar durch die eine oder andere Variante des Utilitaris­mus gestützt werden. In aller Regel kön­nen diese Thesen aber von ihrer utili­taristischen Fundierung gelöst und daher auch auf Basis ganz anderer Konzeptio­nen vertreten werden(Hegselmann& Merkel 1991, 19). Die philosophische Begründung der von Singer und Kuhse vertretenen Ansichten soll mithin auch unter Rückgriff auf andere moralphiloso­phische Konzeptionen erfolgen können, wobei allerdings zusätzlich zu berück­sichtigen ist,daß es um die Klärung vie­

ler moralphilosophischer Grundlagenfra­gen nicht gut bestellt ist(ebd.). Selbst wenn man also mit Singer Einschränkun­gen des Tötungsverbotes für unumgäng­lich hält, bedeutet dies nicht, daß man die Begründungen Singers anerkennen muß. In dieser Situation stellt sich dann aller­dings auch die Frage nach der möglichen Begründungsfunktion, die moralphilo­sophische Konzeptionen für konkrete Entscheidungen überhaupt noch haben können.

Von diesen beiden eher inhaltlich orien­tierten Aspekten der Euthanasie Debatte ist die nicht zuletzt auch in der Behin­dertenpädagogik aufgeworfene Frage zu unterscheiden, obdie Euthanasie-Pro­blematik überhaupt öffentlich diskutiert werden dürfe(Hegselmann& Merkel 1991, 22). Daß die von Singer vertrete­nen Thesen derart heftige Reaktionen provozieren, läßt sich nun nach Heg­selmanns Auffassung zumindest teilwei­se zwar auchmit bestimmten Schwie­rigkeiten, Belastungen und Spannungen [erklären M.S.], die eine moralische Aufklärung für die Individuen mit sich bringt(Hegselmann 1991, 199), wobei Singer diese Erfahrung mit anderen Mo­ralphilosophen wie Hobbes, Kant, Hume oder Russell teilt(ebd.). Nichtsdestowe­niger werfen diese heftigen Reaktionen die Frage auf, ob es nicht doch gute Gründe dafür gibt, diese Debatte nicht zu führen, und ob es entgegen der von den Autoren des Sammelbandes und von den Unterzeichnern der im Anhang abge­drucktenErklärung deutscher Philoso­phen zur sog.»Singer-Affäre«(1991) erhobenen Forderung nach rationaler Diskussion nicht doch legitime Gründe dafür gibt, zur Verhinderung dieser De­batte nichtargumentative Mittel als eine Art Notwehr einzusetzen.

Die Unterscheidung der Debatte in diese drei Aspekte ist zunächst einmal plausi­bel, und sie bestimmt die Gliederung der Beiträge des Sammelbandes in Stellung­nahmen zur Euthanasie(Birnbacher, Kuh­se, Merkel, v. Loewenich, Gespräch Sin­gers mit Fehige und Merkel) und in Stel­lungnahmen zur Debatte über Euthana­sie(U. Wolf, Hegselmann, Kliemt, Witt­mann, Anstötz und Singer). Bei der Lek­türe fällt dann aber auf, daß entgegen der

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL, Heft 2, 1992

Michael Schwager* Reden über Euthanasie

Erwartungen an keiner Stelle versucht wird, etwa analog zu dem Singerschen Versuch Kriterien zu entwickeln, welche die Entscheidung für eine Euthanasie möglicherweise rechtfertigen könnten. Vielmehr kreisen auch die Aufsätze des ersten Teils vielfach um den möglichen Sinn der Euthanasie Debatte, wobei es neben der Frage danach, ob diese Debat­te überhaupt geführt werden darf, auch um die Fragen geht, ob es sinnvoll oder notwendig ist, die Debatte zu führen, und mit wem sie eigentlich über was geführt werden kann.

Das Thema der Debatte

Daß diese Debatte auch im deutschspra­chigen Raum notwendig und überfällig ist, versuchen insbesondere Kuhse(1991), Merkel(1991) und Singer(1991a/b; Sin­ger et al. 1991) nachzuweisen, indem sie auf die vielfältigen gesellschaftlichen, medizinischen und juristischen Verdrän­gungsmechanismen verweisen, mit de­nen dieses Thema behaftet ist. Diese Mechanismen werden aber, und dies ver­deutlichen die sowohl in den genannten Texten als auch die bei v. Loewenich (1991) dargestellten Beispiele nachdrück­lich, der Bewältigung der Realität nicht mehr gerecht. Durch die Entwicklung der Medizintechnik hat sich die Aus­gangslage der Diskussion um das Tö­tungsverbot und damit auch um die Eu­thanasie verändert. Es geht nicht mehr um die Entscheidung zwischen Töten und Leben lassen, wobei im letzten Falle der Zeitpunkt des Sterbens unbestimmt bleibt. Vielmehr geht es im Grunde um die Entscheidung zwischen Sterben las­sen und Lebendig erhalten, wobei Zeit­punkte und Zeiträume in zunehmenden Maße der menschlichen Kontrolle unter­worfen sind. Weil dies so ist, werden die Fragen nach den empirischen aber auch nach den qualitativen Merkmalen des Lebens und des Sterbens als Entschei­dungsgrundlage zwangsläufig zu tref­fender Entscheidungen bedeutsam, da sich ärztliches Handeln in diesen Fällen offensichtlich immer weniger durch das herkömmliche Ziel der durch Heilung

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