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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Buchbesprechungen

beleuchten oder in übergeordnete Zusam­menhänge einordnen; so erstaunt es auch nicht, daß bei solchen Artikeln bis zu 50% der Literaturangaben auf eigene Arbeiten verweisen. Bei der Auswahl dieser Autorin­nen und Autoren, dielediglich über ihr eigenes Arbeitsgebiet referierend informie­ren, hatten die Herausgeber insgesamt eine glückliche Hand(ähnlich geeignete Autoren wie etwa Christel Manske fürDer Handeln­de Unterricht, Ernst J. Kiphard fürPsycho­motorische Erziehung(Motopädagogik), Rimmert van de Kooij fürSpiel- und Ver­haltensstörungen bei Schülern fallen einem wohl kaum ein). Auf der anderen Seite ent­hält das Handbuch auch viele sehr komplexe, wenig vorstrukturierte Themen, die nur nach gründlicher wissenschaftlicher Durchdrin­gung angemessen dargestellt werden kön­nen. Dies erfordert entweder sehr hohe Eigenleistungen, wenn damit auch der An­spruch verbunden ist, neue Impulse für die Theoriebildung zu setzen(Beispiele hierfür wurden oben genannt), oder es erforderte gutes Geschick bei der Auswahl solcher Ar­beiten, von denen man sich bei der Darstel­lung inhaltlich und formal leiten läßt(auch dafür finden sich Beispiele in dem Band). Zu dem Eindruck großer Heterogenität tra­gen auch die unterschiedlichen Schwer­punktbildungen der einzelnen Beiträge be­züglich der herangezogenen oder herausge­arbeiteten wissenschaftlichen Aussagen bei. Manche Autoren haben sich bemüht, de­skriptive, präskriptive, explanative und nor­mative Aussagen gleichermaßen zu berück­sichtigen, andere wiederum beschränken sich auf nur eine oder zwei dieser Aussageformen, was in vielen Fällen durch das Thema be­dingt ist, in manchen Fällen aber auch nicht. Auch die Stilformen der einzelnen Beiträge bieten teilweise erfrischende Abwechslung: Neben sehr sachlichen Darstellungen im Wis­senschaftsjargon und dies auf den unter­schiedlichsten Abstraktionsebenenteils sprö­de, teils glänzend formuliert, finden sich einzelne Abhandlungen, in die anschauliche Fallstudien und persönliche Erlebnisse ein­gestreut sind, und ein Essay mit regional­spezifischem Pathos sorgt gar für literari­schen Genuß(Christoph ErtleSozialpäd­agogische Schule).

Der Verzicht auf konzeptionelle Geschlos­senheit muß also nicht unbedingt ein Nach­teil für die Leserschaft sein. Im vorliegenden Falle stellt er vielleicht sogar die beste Lö­sung dar, um den insgesamt noch recht unzureichenden Entwicklungsstand dieser Disziplin angemessen, wenn auch nicht be­wußt so intendiert, zu repräsentieren. Es feh­

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len offenbar allgemein akzeptierte Kriterien, um zu beurteilen, was zu diesem Wissens­gebiet gehört und was nicht; so wollte man wohl Schwerpunktsetzungen vermeiden und streng darauf achten, nichts unberücksich­tigt zu lassen, was vielleicht dazu gehören könnte.

Damit dürfte der gewaltige Umfang des Ban­des gut zu erklären sein.

Um aber zu verstehen, warum es zu dem von Schlee beklagten desolaten Zustand der Dis­ziplin gekommen ist, bieten die von Norbert Myschker(Zur Geschichte der Pädagogik bei Verhaltensstörungen) unter sozialhi­storischer Perspektive gut herausgearbeite­ten Entwicklungslinien institutioneller For­men der Bewahrung, Betreuung und Förde­rung sicher geeignete Ansatzpunkte: Ließe sich doch in Weiterführung seiner Analysen zeigen, daß in der Vergangenheit kaum päd­agogische Konzepte entwickelt worden sind, welche die vielfältigen Äußerungsformen kindlicher Subjektivität in angemessener Weise berücksichtigen, sondern daß viel eher die formalen Unterschiede betont wurden, um auf dieser Grundlage die als störend empfundene Vielfalt zu reduzieren. Damit aber bürdete man sich theoretisch und prak­tisch kaum lösbare Aufgaben auf.

Dieser Gedanke mag die Herausgeber dazu bewogen haben, die Systematik des Bandes nichtanden verschiedenenStörungsbildern oderErscheinungsformen zu orientieren, zumal ja auch Band 9 der Handbuchreihe die entsprechenden direkten Zugänge ermöglicht. Dieser systematisch bedingte Verzicht schlägt sich auch im Sachregister nieder: Das Stich­wortAngst ist nicht aufgeführt(auch nicht Phobie,Schul-Phobie,Ängstlichkeit, Furcht), obwohl diese Thematik durchaus in dem Band behandelt wird. Gleiches gilt für Anorexianervosa bzw.Magersucht. Auf Aggression undAggressivität verwei­sen insgeamt nur sechs Angaben, obwohl diese Problematik auch an vielen anderen Stellen in sehr einschlägiger Weise ange­sprochen ist.(Wahrscheinlich sind diese nur unter dem BuchstabenA vorgenommenen Stichproben repräsentativ für das gesamte Sachregister.) Es gibt weitere Hinweise, daß dem Sachregister insgesamt zu wenig Be­dacht geschenkt worden ist. Die Stichwörter Regulation oderSteuerung und ver­wandte Begriffe findet man nicht, obwohl sie in verschiedenen Texten als zentrale Ka­tegorien herausgestellt werden. Die heutige Technik der Textverarbeitungsprogramme hätte es ermöglicht, Sachregister quasiauf Verdacht zunächst unabhängig von den Texten zu erstellen und dann zu prüfen, ob

und an welchen Stellen die einzelnen Stich­wörter in den Texten berücksichtigt worden sind. Offensichtlich ist diese ebenso einfache wie ergiebige Technik nicht eingesetzt wor­den, so daß das Sachregister als erste Orientie­rungshilfe und Zugangsmöglichkeit nur be­dingt geeignet ist. Dafür bietet aber das gut gegliederte, recht differenzierte Inhaltsver­zeichnis eine schnelle Übersicht, die sicher das Auffinden der jeweils interessierenden Inhalte erleichtert.

Die Begeisterung des Rezensenten für dieses Handbuch hält sich also in Grenzen. Der Verzicht auf konzeptionelle Geschlossenheit in inhaltlicher und formaler Hinsicht hat sicher Vorteile, aber auch manche Nachteile schwierig ist es allerdings, diese zu ge­wichten und gegeneinander aufzurechnen.

Prof. Dr. Reimer Kornmann, Heidelberg

Hansen, G., Seitz, W.: Entstehung und Behandlung von Verhaltensstörungen im Kinders- und Jugendalter: Centaurus-Ver­lagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1991, brosch., 100 S., DM 20,00

Einerstes Durchsehen des Buches von Hansen und Seitz läßt die Frage aufkommen, ob denn ein so bedeutendes und komplexes Thema auf relativ knappem Raum überhaupt ange­messen behandelt werden kann. Es bedarf jedoch keiner allzu langen Lesezeit, um die­sen Eindruck zu zerstreuen.

Im ersten Teil des Buches(W. Seitz) geht es um Erscheinungsweisen und Entwicklung, im zweiten Teil(G. Hansen) um Diagnostik und Behandlung von Verhaltensstörungen. Den Schwerpunkt des ersten Teils bildet die Entstehung von Verhaltensstörungen aus der Sicht verschiedener theoretischer Positionen: psychoanalytischer, individualpsychologi­scher und lernpsychologischer einschließ­lich kognitiver Ansatz, Theorie des Selbst­konzepts nach Rogers sowie symbolischer Interaktionismus als Stigmatisierungs- und Etikettierungsansatz. Der Autor strebt hier keine Vollständigkeit in der Beschreibung der jeweiligen Theorie an, vielmehr werden die einzelnen Bedingungen und Prozesse zur Entstehung von Verhaltensstörungen im Kin­des- und Jugendalter sehr systematisch und informativ herausgearbeitet. Eine gewisse Geschlossenheit in der Darstellung ergibt sich aus einer zehn Seiten umfassenden ta­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1992