Buchbesprechungen
Buchbesprechungen
Herbert Goetze u. Heinz Neukäter(Hrsg.), Handbuch der Sonderpädagogik, Band 6: Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Berlin: Edition Marhold im Wissenschaftsverlag Volker Spiess. 1990. 1103 S., DM 228,—
Das Handbuch gilt als eine Arbeitshilfe für Menschen, die sich bei ihrer Arbeit in Praxis und Forschung, in Studium und Weiterbildung an wissenschaftlichen Standards orientieren und sich bestimmte Teilgebiete aus einer übergeordneten Thematik möglichst schnell und leicht erschließen wollen. Dazu sollte es den bei Redaktionsschluß aktuellen fachlichen Stand der entsprechenden Disziplin angemessen widerspiegeln. Bei einer Besprechung müßten also die herausgeberische Konzeption und die davon mehr oder weniger stark abhängigen Einzelleistungen der Autorinnen und Autoren unter der Frage bewertet werden, ob und inwieweit sie die inhaltlichen, aber auch die technischen Erwartungen an ein Handbuch erfüllen. Von einem einzelnen Rezensenten kann man aber nicht verlangen, daß er alle Beiträge eines Handbuchs fachlich kompetent beurteilt— denn könnte er dieses, dann wäre das Handbuch durch eine Monographie ersetzbar, also überflüssig. Die Rezension eines Handbuchs durch einen einzelnen Rezensenten muß sich daher auf zwei Aspekte beschränken:
1. Sie kann versuchen, die herausgeberische Konzeption zu beschreiben und zu bewerten
2. Sie kann zu den Möglichkeiten der technischen Handhabung Stellung nehmen.
Der hier zu besprechende Band aus der in
zwischen 12bändigen, im Jahre 1977 eröff
neten Reihe ist der mit Abstand umfangreichste. Sein Aufbau ist an dem Gliederungsprinzip der gesamten Reihe orientiert.
Er enthält vier Teile: Grundlagenprobleme
(sieben Beiträge), Aspekte der Pädagogik
(13), Unterricht(11), therapieorientierte Ver
fahren(13) und Nachbardisziplinen(7)—
jeweils bezogen auf die Pädagogik bei Verhaltensstörungen.
Dieser— etwa im Vergleich zu den Bänden
der Pädagogik bei Sinnenschädigungen—
enorme Umfang scheint sowohl in bestimmten Besonderheiten des Faches als auch in konzeptionellen Entscheidungen der Herausgeber begründet zu sein. Eine mögliche Er
klärung für die Schwierigkeiten, gesichertes Wissen, aber auch die für weitere Forschung offenen Fragen der Disziplin kompakt darstellen zu können, liefert der— in bekannt kritischer Manier abgefaßte— Beitrag von Jörg Schlee“Zur Problematik der Termninologie in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen”. Dort heißt es abschließend(S. 48):“Für die in der Literatur zitierten Ursachen, Symptome und Syndrome von“Verhaltensstörungen” gibt es kein in sich stimmiges Bezugssystem, vor dessen Hintergrund präzise und kontrollierbare Aussagen gemacht werden können. Scheinbare Erkenntnisse verflüchtigen sich bei genauer Prüfung zu unverbindlichen“Aspekten”, die nie falsch, aber auch nie völlig richtig sein können. Die verwirrende Vielfalt von— oft auch widersprüchlichen— Überlegungen und Befunden, die scheinbare Mehrdimensionalität oder angebliche Multikausalität..., ergeben sich nicht aus einwandfreien Untersuchungen eines komplexen Gegenstandes, sondern sind das Resultat theoretischer Konfusion. Die Verhaltensgestörtenpädagogik vermag ihren Gegenstandnicht zu benennen. Entsprechend wird es unmöglich, in diesem Fach über das Verhältnis von Gegenstands(vor)entwurf und methodischen Konzeptionen nachzudenken. Dadurch wird die Wahl von Forschungsmethoden theoretisch nicht fundierbar und gerät ins Beliebige. Der durch Methoden bewirkte Einfluß auf ein Fragen- und Gegenstandsverständnis bleibt verborgen und läßt sich nicht reflektieren. Untersuchungsergebnisse können nicht systematisch eingeordnet werden, sondern man ist ihnen ausgeliefert. Daß sich auch andere Wissenschaftsdisziplinen in einer Interdisziplinarität an der Erforschung von Verhaltensstörungen beteiligen sollen/können, ergibt sich als scheinbare Folgerichtigkeit aus theoretischer Unbeholfenheit... Für die Praxis der Verhaltensgestörtenpädagogik kann unter diesen Voraussetzungen kein fruchtbares Wissen entwickelt und auf Bewährung geprüft werden.” Zumindest in groben Zügen— nicht unbedingt in allen erkenntnistheoretischen Positionsbestimmungen— dürften Schlees Analysen zutreffen. Ganz offensichtlich teilen die Herausgeber weitgehend die Einschätzung von Schlee und haben sie bei der Konzeption des Handbuchs und der Auswahl der
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1992
Autorinnen und Autoren berücksichtigt. So finden sich zahlreiche Beiträge, welche die Berechtigung der Kritik von Schlee materialreich belegen— sei es in Form von sicher unbeabsichtigten Beispielen durch die eigenen Artikel(vor allem bei der Darstellung von unterrichtlichen Konzepten und therapieorientierten Verfahren im dritten und vierten Teil), sei es durch das redliche Bemühen, insbesondere von Karl-Heinz Benkmann (“Pädagogische Erklärungs- und Handlungsansätze bei Verhaltensstörungen in der Schule”), Ordnungsstrukturen zu schaffen, in welche sich die verwirrende Vielfalt der publizierten Aussagen einordnen läßt, sei es durch Artikel, welche die Aussagen Schlees von bestimmten Aspekten her argumentativ untermauern(so der Problemaufriß von Klaus D. Kuhnekath über“Soziologische Aspekte der Verhaltensstörung”) oder sei es durch den überzeugenden Entwurf von Karl-Ludwig Holtz und Rudolf Kretischmann(“Psychologische Grundlagen der Pädagogik bei Verhaltensstörungen””), konkrete Auswege aus der verfahrenen Situation aufzuzeigen.
Die hier erwähnten Artikel habe ich bewußt hervorgehoben, weil sie mich am stärksten durch das hohe wissenschaftliche Niveau bei der Darstellung ihrer kenntnisreichen Grundlagen und deren Ordnung, Analyse und Bewertung beeindruckt haben. Wie immer man die einzelnen Beiträge beurteilen mag: Zusammen ergeben sie ein Bild extremer Unterschiedlichkeit. Das läßt sich schon leicht an formalen Merkmalen festmachen: So vermittelt Heinz Bach in seinem einleitenden Beitrag über“Verhaltensstörungen und ihr Umfeld” den Eindruck, daß einschlägige Erkenntnisse, die seit 1981 zum Thema veröffentlicht worden sind, mit einer einzigen Ausnahme nur noch von ihm selber stammen; zahlreiche andere Autoren zeigen hingegen, daß das von ihnen behandelte Thema noch voll in der aktuellen, auch internationalen Diskussion ist. Oder ein anderes Beispiel: In einigen Beiträgen werden bestimmte, klar definierte Unterrichtskonzepte und Therapieformen knapp und kompetent von gerade solchen Autorinnen und Autoren abgehandelt, deren eigenes Werk genau mit ihren Themen zu identifizieren ist. Von diesen Personen ist natürlich nicht zu erwarten, daß sie ihr eigenes Feld aus kritischer Distanz
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