Theodor Hellbrügge+
Integration und gemeinsame Erziehung
behinderte Mitschüler als weniger brav, traurig, arm, leise, krank, schwach ein. Aus ihren Erlebnissen heraus hatten sie also die typischen Vorurteile gegenüber behinderten Kindern abgelegt.
Auch in der„Soziale-Distanz-Skala‘‘, die den operationalisierten Handlungsaspekt betrifft, zeigten die ehemaligen Montessori-Schüler eine wesentlich geringere soziale Distanz, aber eine größere soziale Nähe als ihre„wissenschaftlichen Geschwister“‘ in der Regelschule. 72% der ehemaligen Montessori-Schüler konnten sich gut vorstellen, ein körperbehindertes Kind als besten Freund zu haben.
Rund 80% der nichtbehinderten Kinder gehen nach 4 Jahren Grundschule auf das Gymnasium. Hierzu müssen sie— da die Schule nur staatlich genehmigt, aber nicht staatlich anerkannt ist— eine Aufnahmeprüfung an einer fremden Schule mit einem ihnen grundsätzlich fremden Stoff bestehen, was bemerkenswerterweise niemals zu Schwierigkeiten führte. Das Weiterverfolgen der Kinder, die von der Montessori-Grundschule in das Gymnasium übergewechselt sind, hat gezeigt, daß die Kinder keine Schwierigkeiten hatten, sich auf einen lehrerzentrierten Unterricht mit Noten einzustellen. Ihre im Rahmen der gemeinsamen Erziehung gewonnene Selbständigkeit erleichterte ihnen dies offensichtlich.
Einer unserer ehemaligen Schüler — mathematisch besonders begabt— beherrschte bereits am Ende des zweiten Jahres die Grundschul- und am Ende des vierten Schuljahres die gesamte Hauptschulmathematik, was im Rahmen der Montessori-Pädagogik ohne Schwierigkeiten möglich ist. Er hat 1983 die Jugend-Mathematik-Olympiade in Paris mit einer Goldmedaille gewonnen.
Den behinderten Kindern steht die Möglichkeit offen, in das Gymnasium über
Literatur
Deutscher Bildungsrat(1973). Empfehlung zur pädagogischen Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und
Jugendlicher, Bonn.
Fischer, A.(1956). Aufbau eines Gesundheitserziehungsprogramms durch einen Wohlfahrtsverband. In: Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung(Hrsg.), Gesundheitserziehung von A—Z, Bonn.
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zuwechseln, die 4. Klasse vor dem Übergang in das Gymnasium noch einmal zu wiederholen, in eine Hauptschule überzutreten oder in die Sonderschule zu gehen. Auch unter den behinderten Kindern haben wir einen relativ hohen Prozentsatz von späteren Gymnasiasten, darunter vor allem hörbehinderte und körperbehinderte Kinder mit Sspastischer Lähmung.
Die Erfolge bei behinderten Kindern lassen sich an den Ergebnissen der Schullaufbahn von geistig behinderten. lernbehinderten und erziehungsschwierigen Kindern anhand der Abschlüsse an unserer Montessori-Schule messen. Die 1974 und 1975 erstmals erhobenen Befunde haben sich in den vergangenen Jahren stets in gleicher Weise bestätigt.
— Von 17 bei der Einschulung als geistig behindert eingestuften Kindern erreichten 9 Jahre später wenigstens 2 Kinder einen Hauptschulabschluß, 7 einen Lernbehindertenabschluß und nur 8 blieben bei einem Abschluß für geistig behinderte Kinder;
— Von 16 bei der Einschulung als lernbehindert eingestuften Kindern erreichten wenigstens 8 einen normalen Hauptschulabschluß und 8 einen Lernbehindertenabschluß;
— Von 5 bei der Einschulung als erziehungsschwierig eingestuften Kindern erreichten 4 einen normalen Hauptschulabschluß, 1 Kind einen Lernbehindertenabschluß.
Die Besucher unserer Schule stehen ständig vor geradezu zauberhaften Erlebnissen, wenn sie z.B. beobachten, wie ein Kind mit Cerebralparese einem mental zurückgebliebenen Kind die Grundlagen der Mathematik erklärt oder wie ein schwerbehindertes Kind Arm in Arm mit
einem nichtbehinderten Kind während der Pause über den Schulhof geht und sich freundschaftlich unterhält.
Die im Sonderschulsystem praktizierte Absonderung von behinderten Kindern schafft offenbar in unserer Bevölkerung Vorurteile, die eine systematische Einführung einer gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder, allerdings verbunden mit einer Rückbesinnung unserer inzwischen gymnasialisierten Grund- und Hauptschule mit ständiger Erweiterung von Fachlehrern, notwendig macht.
Obwohl die von mir als Kinderarzt gegründete Montessori-Schule mit gemeinsamer Erziehung mehrfach und verschiedenartig behinderter Kinder mit nichtbehinderten Kindern bereits seit über 20 Jahren existiert und internationale Anerkennung gefunden hat, ist ihr Status als Schulversuch gleichgeblieben. Trotz aller Bemühungen hat das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus keine gesetzliche Grundlage finden können, um diese Schule aus dem Status des immerwährenden Schulversuches herauszunehmen. So bleibt diese Schule als Vorbild für die gemeinsame Erziehung in anderen Schulen des Bundesgebietes wohl auch in den nächsten Jahren erhalten.
Die von unseren Kindern ausgehenden Impulse zur gemeinsamen Erziehung werden verstärkt durch die Lehrgänge in Montessori-Heilpädagogik, die wir Jahr für Jahr in der Deutschen Akademei für Entwicklungs-Rehabilitation am Kinderzentrum München durchführen. In diesen Lehrgängen wird die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder als selbstverständliche Grundlage auch für die Förderung der schwachen, d.h. behinderten Kinder angesehen.
Hellbrügge, Th.(1966). Zur Problematik der Säuglings- und Kleinkinderfürsorge in Anstalten. Hospitalismus und Deprivation. In: Hand
buch der Kinderheilkunde, Bd. 3, Soziale Pädiatrie, Springer-Verlag Berlin— Heidelberg-New York, 384—404.
Hellbrügge, Th.(1970). Zur Prognose des frühkindlichen Depriva
tionssyndroms bei Heimkindern. In: Schriftenreihe der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege e.V., Heft 17, 42-58. Hellbrügge, Th.(1977). Unser Montessori-Modell. Erfahrungen mit
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991