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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Theodor Hellbrügge ­

Integration und gemeinsame Erziehung

Indem das intelligente Kind dem weni­ger intelligenten Kind hilft, wächst es in seiner Selbständigkeit, wodurch auch seine kognitiven Prozesse maßgeblich gefördert werden.

Indem das geistigbehinderte Kind voller Freude den Rollstuhl des schwer körper­behinderten Kindes schiebt, erlebt es das Glück des Helfens, womit es in sei­ner Selbständigkeit und in seiner Kom­munikationsfähigkeit gefördert wird.

Da geistigbehinderte Kinder in glei­cher Weise auch sinnesgeschädigte, ein­schließlich blinder Kinder von anders behinderten Kindern Hilfe erfahren, läßt sie Helfen und Helfenlassen erfahren, was wiederum nicht nur ihre Sozialent­wicklung maßgeblich fördert, sondern auch ihre Lernprozesse verstärkt. Nur in der integrierten Erziehung kann wie kürzlich erlebt auch ein Kind mit Down-Syndrom(in aller Welt als geistig behindert abgestempelt und in Sonder­schulen isoliert) eine zweite Sprache er­lernen und sich, wie in unserer Schule geschehen, mit der britischen Kronprin­zessin Diana auf Englisch unterhalten. Die Prinzipien der Montessori-Pädagogik machen es möglich, daß auch behinderte Kinder ein Lernniveau erreichen, das in einer Sondergruppe einfach nicht er­reicht werden kann.

Montessori-Material

Ein großer Vorteil für die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehin­derter Kinder liegt in dem Einsatz des Montessori-Materials.

Die Materialien zur Übung des prakti­schen Lebens im Kindergarten und in der Grundschule als Anregung erfah­ren können ohne weiteres auch bei geistig behinderten Kindern, motorisch gestörten oder sinnesgeschädigten Kin­dern in den Alltag übertragen werden. Im Rahmen der Tätigkeiten des prakti­schen Lebens lernt das Kind in der Mon­tessori-Gruppe gemeinsam mit nichtbe­hinderten Kindern tätig zu werden, eine Fähigkeit, die ihm in der Praxis des spä­teren Lebens maßgeblich Hilfe gibt.

Die Beschäftigung mit dem Sinnesma­terial hilft dem Kind zu begreifen, was es sieht, hört und tastet. Es verarbeitet behindert oder nicht auditive, visu­elle, Geschmacks-, Tast- und Geruchs­eindrücke. Die Kompensationsmöglich­keiten für motorisch behinderte oder sinnesgestörte Kinder liegen wie in kei­ner anderen Pädagogik auf der Hand.

Mit dem didaktischen Material lernen wie auch immer behinderte Kinder leich­ter die pädagogischen Grundtechniken als über jede andere Methode. In der Mathematik greifen und damit begrei­fen behinderte und nichtbehinderte Kin­der beispielsweise eine Goldene Perle als Punkt=1, 10 Goldene Perlen aneinander­gereiht als Linie=10, 10 mal 10 Goldene Perlen hinderteinander als Hunderter­kette, nebeneinander als Quadrat= 100, 10 mal 10 aufeinandergelegt als Kubik­wurzel= 1000.

Das Nachziehen der Sandpapierbuchsta­ben als Koordinationsübung prägt als kinästhetisches Lernen(von Maria Mon­tessoriMuskelgedächtnis genannt) dem Großhirn die Buchstabenmuster ein, wodurch wiederum motorisch ge­störte, sinnesgeschädigte, auch mental retardierte Kinder erhebliche Schreib­und damit Lesehilfe erfahren.

Indem das nichtbehinderte Kind die gleichen Übungen an dem gleichen Material vollzieht wie das behinderte Kind, entstehen neben den kognitiven kontinuierlich auch soziale Lernprozes­se, die für die Persönlichkeitsentwick­lung behinderter und nichtbehinderter Kinder bedeutsam sind.

Erfahrungen mit gemeinsamer Erziehung im Rahmen der Montessori-Pädagogik in der Grundschule

Bei der integrierten Erziehung in der Grundschule hat sich im Rahmen der Montessori-Pädagogik unserer Schule eine Klassenstärke zwischen 20 und 25 Kindern, von denen 5 bis 7 Kinder mehr­fach und verschiedenartig behindert sind, als günstig erwiesen. Die Art der Behin­derung spielt eine untergeordnete Rolle,

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991

jedoch benötigen in ihrer Sozialentwick­lung geschädigte aggressive Kinder eine kleinere Gruppe, wo sie mehr Zuwen­dung durch den Pädagogen erhalten. Da unsere Kinder die amtlichen bayerischen Lehrpläne lernen, kann jederzeit ein Kind die Schule verlassen oder neu in die Grundschule eintreten.

Da die Montessori-Schule als Schulver­such genehmigt wurde, hat das Bundes­ministerium für Bildung und Wissen­schaft auch eine wissenschaftliche Be­gleitung finanziert, mit deren Hilfe nicht nur der Leistungsstand, sondern vor allem das Arbeitsverhalten und die soziale Eingliederung untersucht wurden. In ei­ner parallelisierten Untersuchung mit wissenschaftlichen Geschwistern aus der normalen Grundschule wurden Kon­zentrationsverhalten, Schulangst, Schul­unlust, funktionelle körperliche Be­schwerden und Einstellung zu Behin­derten neben der Schulleistung unter­sucht.

In Deutsch, Mathematik und Turnen hatten die ehemaligen Montessori-Schü­ler im Sekundarbereich die gleichen Lei­stungen wie die Kinder, die ihre Grund­schulzeit in Regelschulen verbracht hat­ten und dies, obwohl sie während der ge­samten Grundschulzeit praktisch keine Noten kennenlernten.

Die ehemaligen Montessori-Schüler zeig­ten im Hinblick auf Prüfungsangst und manifeste Angst hochsignifikant gerin­gere Werte: als ihrewissenschaftlichen Geschwister aus Regelschulen. Die Montessori-Schüler zeigten im Prinzip die gleichen Konzentrationsleistungen wie die Grundschüler aus den Regel­schulen, und dies, obwohl unter den Montessori-Schülern von Behinderung bedrohte, körperbehinderte und sogar mehrfach geschädigte Kinder waren. Im Sekundarbereich allerdings waren die ehemaligen Montessori-Schüler in ihren Konzentrationsleistungen signifi­kant besser.

Signifikante Unterschiede fanden sich beim Selbstkonzept, d.h. die ehemali­gen Montessori-Schüler auch die be­hinderten Kinder schätzten sich signi­fikant als schneller, ruhiger und mutiger ein sowie als tendenziell besser. Die ehe­maligen Montessori-Schüler schätzten

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