Theodor Hellbrügge
nach München zurück. Ich hatte mit der Montessori-Pädagogik ein pädagogisches System entdeckt, das es grundsätzlich ermöglichte, nichtbehinderte und behinderte— auch verschiedenartig behinderte— Kinder gemeinsam zu erziehen. Dies schien wichtig im Hinblick auf das Konzept der Entwicklungs-Rehabilitation, das ich 1968 mit Hilfe der Aktion Sonnenschein im Kinderzentrum München geschaffen habe. Als Ziel der Frühdiagnostik und Frühtherapie wurde die frühe soziale Eingliederung wie auch immer gestörter und behinderter Kinder in Familie, Kindergarten und Schule intendiert, und hierfür schien die Montessori-Pädagogik geradezu ideal geeignet. Als Konsequenz dieser Erlebnisse im Deutschen Bildungsrat wurde dem Kinderzentrum München 1968 ein Montessori-Kindergarten angegliedert, in dem erstmalig systematisch integrierte Erziehung— aus sozialpädiatrischer Sicht besser eine gemeinsame Erziehung— behinderter, und zwar mehrfach und verschiedenartig behinderter, mit nichtbehinderten Kindern praktiziert wurde.
Sonderstellung der MontessoriPädagogik und Gründung eines ersten Integrationskindergartens
Aus der Sicht der Pädagogik des Deutschen Bildungsrates mußte die Montessori-Pädagogik als Herausforderung gelten. Während alle Bestrebungen darauf hinausliefen, altersgleiche, leistungsgleiche oder leistungsschwache Gruppen zu schaffen, lehnte diese Pädagogik konsequent Jahrgangsklassen ab. Den Vorstellungen des Deutschen Bildungsrates entsprach ein lehrerzentrierter Unterricht, bei dem die Lernprozesse vor allem vom Lehrer induziert werden, während in der Montessori-Pädagogik mit kindzentriertem Unterricht allein das Kind im Mittelpunkt steht, das weitgehend autodidaktisch seine Lernprozesse selbst bestimmt.
Während das Ziel der Bildungsrat-Pädagogik darin bestand, der einheitlichen Gruppe die gleichen Lernprozesse mit dem gleichen Lerntempo zu ermöglichen, bestimmt in der Montessori-Päd
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- Integration und gemeinsame Erziehung
agogik das einzelne Kind sein Lerntempo weitgehend selbst. Während in den Bestrebungen der Bildungsrat-Pädagogik mit der Unterrichtung weitgehend leistungsgleicher oder gleich leistungsschwacher Kinder die Tendenz liegen mußte, daß die Schüler immer nur lernten, was als Pensum von dem Lehrer aufgegeben wurde, was zwangsläufig auch die Unselbständigkeit der Kinder förderte, ist in der Montessori-Pädagogik die Freiheit des einzelnen Kindes und die Förderung der Selbständigkeit maßgeblich intendiert. In diesem System hat der Erzieher lediglich den Auftrag, aus der Sicht des Kindes,„Hilf mir, es selbst zu tun“,
Bei der Einrichtung des ersten Montessori-Kindergartens, in dem behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam erzogen wurden, hatte ich das einmalige Glück, daß mir in Frau Margarete Aurin eine unmittelbare Schülerin von Maria Montessori begegnete, die— erstmalig für die gesamte internationale Montessori-Pädagogik— im Kinderzentrum München systematisch eine gemeinsame Erziehung behinderter mit nichtbehinderten Kindern praktizierte. Der Aufbau und die ersten Erfahrungen des Kindergartens, ebenso wie die unglaublichen behördlichen Schwierigkeiten, als aus diesem Kindergarten wie selbstverständlich eine Grundschule entstand, sind in dem Buch„Unser MontessoriModell‘(Hellbrügge 1977) eingehend beschrieben.
Vorteile der Montessori-Pädagogik für die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder
Die Vorteile der Montessori-Pädagogik für die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder wurden bereits kurz skizziert. Sie liegen in folgenden Prinzipien:
Aktives Lernen:
Nach den Erkenntnissen der Kommunikationsforschung hat Lernen durch Hören etwa eine Effizienz von rund 20%, Lernen durch Lesen von rund 30%, Lernen durch die Verbindung von Hören
und Lesen eine Effizienz von rund 50%, Lernen durch darüber sprechen 70%, aber Lernen durch aktives Handeln eine Effizienz von 90%(Fischer 1956). In der Montessori-Pädagogik steht das aktive Lernen durch Handeln mit dem Montessori-Material im Vordergrund. Im Hinblick auf die Lernprozesse ist deswegen die_Montessori-Pädagogik grundsätzlich allen anderen pädagogischen Systemen, in denen nicht aktives Lernen im Mittelpunkt steht, überlegen.
Vorbereitete Umgebung:
In ihr finden die Kinder alle didaktischen Prozesse geordnet vor: In offenen Regalen mit Montessori-Material, mit gemeinsamer Pflege der Umgebung zur Förderung des Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühls, der freie Übergang von einer Gruppe in die andere etc...
Freie Bewegung:
Lernen an dem eigenen Tisch, Lernen auf der Matte auf dem Fußboden, Lernen— unter Mitnahme des eigenen Gestühls— im Freien, Gastlernen in der Nachbargruppe etc... Freie Bewegung stärkt den natürlichen Bewegungsdrang des Kindes als eine der entscheidenden Voraussetzungen für das Wachstum und gibt behinderten und nichtbehinderten Kindern die Möglichkeit, motorische Störungen selbstverständlich zu akzeptieren.
Heterogene Lerngruppen:
In der Montessori-Pädagogik sind die Altersstufen von 3 bis 6 Jahre, 7 bis 9 Jahre, 10 bis 12 vereint. Unter Einbeziehung von mehrfach und verschiedenartig behinderten Kidnern lernen Jüngere von Älteren, Schwächere von Stärkeren. Docendi discimus(„wer lehrt, lernt besser‘) ist ein über 2000 Jahre altes Prinzip, das hier zum Vorteil von erfahrenen Kindern wie von selbst verwirklicht wird. Maria Montessori(1976) hat dies so beschrieben:„Der Weg, auf dem die Schwachen sich stärken, ist der gleiche wie der, auf dem die Starken sich vervollkommnen.“‘‘
Soziale und kognitive Förderung:
Auf der Basis dieser Pädagogik— so hat in über 20 Jahren auch die Erfahrung sowohl im Kindergarten als auch in der Grundschule als auch inzwischen in der Hauptschule in München ergeben— läßt sich in besonderer Weise der Vorteil einer gemeinsamen Erziehung. mehrfach und verschiedenartig, auch geistigbehinderter Kinder mit nichtbehinderten, auch hochintelligenten Kindern ablesen.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991
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