Hans Grissemann+
Die schulische Integration in der Schweiz
Integration im Gespräch. Wird das Rad zurückgedreht?
Bis vor wenigen Jahren wurde bei uns Fortschritt im Bildungswesen in einer begabungsorientierten Differenzierung des Schulsystems gesehen, die mit der Vorstellung der effizienten Förderung in relativ homogenen Leistungsgruppen verbunden war. Diese Differenzierung bezog sich auf beide Extrembereiche der Begabungsverteilung. Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts wurden vor allem in der deutschen Schweiz analog zur Entwicklung in Deutschland immer mehr Sonderklassen für Problemschüler eröffnet, die bis zu einer Quote von über 4% separierter Sonderschüler zur Verfügung standen.
Die ausgeprägteste Umsetzung dieses Differenzierungsdenkens realisierte der Kanton Zürich mit seiner Zuordnung von Sonderklassen zu einem alphabetischen Typensystem: A zur Einschulung von „nicht ganz schulreifen‘“ Schulanfängern, B für Lernbehinderte mit schwerer Beeinträchtigung der Lernprozesse, C für Sinnesgeschädigte und Sprachgestörte, D für Schüler mit Lern- und Verhaltensstörungen, E für ausländische Kinder zur Vorbereitung des Einstiegs in Regelklassen. Dazu kam eine progrediente Entwicklung von Dienstleistungen für ergänzenden Unterricht und für pädagogisch-therapeutische Maßnahmen wie Legasthenieund Dyskalkulietherapie, psychomotorsche Therapie mit einer Steigerung der Nachfrage, welche den Angeboten„gerecht wurde*“‘, Sonderpädagogisch-schulsystemische Idealzustände schienen erreicht zu sein. Einzig Sonderklassen H zur Förderung elitärer Hochbegabter vor dem Eintritt ins Gymnasium fehlten noch.
Die schulorganisatorischen Differenzierungsbemühungen bildeten sich auch ab in der Aufgliederung der Oberstufe in drei Typen, zum Teil auch neben dem Gymnasium, in verschiedenen Kantonen auch in einem frühen Übertritt in die Oberstufentypen nach dem 4. oder 5. Schuljahr.
Die während Jahrzehnten stabile schulische Szenerie beginnt sich nun zu wandeln. Kantone mit dem frühen Übertritt
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in die Oberstufe setzen diesen nach dem sechsten Schuljahr an(Baselstadt und Bern); Versuche mit typenübergreifenden Oberstufensystemen in einer Weiterentwicklung des deutschen Gesamtschulkonzeptes nehmen zu.
Wir befassen uns mit den Neuentwicklungen im sonderpädagogischen Bereich, mit den Versuchen, lernbehinderte Schüler alternativ zum Sonderklassenunterricht, wie zur Zeit vor dem Aufblühen des Sonderklassenwesens, in den wesentlich kleiner gewordenen Regelklassen zu beschulen.
Diese Veränderungen sollten nicht als Entdifferenzierung verstanden werden, die einem Rückschritt entspräche, sondern als Umdifferenzierung. Die Differenzierung wird weniger in der schulischen Typenaufgliederung und in der Ausdifferenzierung von Sonderklassen gesehen, als in einer inneren Differenzierung, in der Individualisierung des Unterrichts und in klasseninternen Fördermaßnahmen.
Die Versuche zur schulischen Integration Lernbehinderter bekommen besonderes Gewicht durch die Tatsache, daß zwei voneinander unabhängige Forschergruppen(Universität Freiburg und Universität Zürich/Pädagogische Abteilung der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich) sie mit wissenschaftlichen Methoden erfaßten und daß die Medien zu einer raschen Verbreitung von Untersuchungsergebnissen beigetragen haben.
Eine Umbruchphase in der Entwicklung der Sonderpädagogik?
Diese Publizität hat zu einer, wie es scheint, fruchtbaren Unruhe geführt, welche wohl zu weiteren gründlichen Abklärungen führen wird. Die Umbruchphase, in welcher sich neue schulsystemische Stabilisierungen vorbereiten, läßt sich etwa in folgenden Symptomen erkennen:
® In Leserbriefen an die Schweizerische Lehrerzeitung werden von Lehrern Befürchtungen dargestellt, welche sich mit den Ansprüchen auseinandersetzen, wenn sie Funktionen übernehmen(sollen), wel
che bisher Fachleuten mit einer besonderen Ausbildung vorbehalten waren und die sich auf die zunehmende Heterogenität beziehen, welche mit der Realisierung dieser Integration verbunden ist.
® Die Freiburger Forscher befürchten, daß ein kostengünstiges Fördergruppensystem für integrierte lernbehinderte Schüler als Pseudoersatz für Sonderklassen zu einer Scheinintegration beitragen könnte.
® Schulpraktiker fühlen sich bedroht (Leserbriefe in der Schweizerischen Lehrerzeitung) durch den Wissenschaftsdruck, d.h. durch die Betonung der hohen Wissenschaftlichkeit der Aussagenermittlung zum Integrationserfolg.„Was gibt es da noch zu diskutieren?“
® Von Journalisten gesetzte provokative Titel wie„„Sitzenbleiben besser als Sonderschule‘*(Tages-Anzeiger, 21.2.1990) erscheinen Schulfachleuten in dieser plakativen Form kaum verantwortbar, können die Realisierung von Maßnahmen, welche heute in gewissen Situationen gerechtfertigt sind, schwer belasten und mögen nicht als Impulse verstanden werden, im Sonderklassenwesen fruchtbare Innovationen zu veranlassen.
® Ethisch orientierte Formulierungen bezüglich einer„Vision einer humaneren Schule, aus welcher keine Schüler mehr ausgesondert werden müßten, einer Vision einer integrationsfähigen Schule“ (Häberlin 1990), sind wohl Zeichen einer ethischen Bemühung, können aber als problematisch empfunden werden, wenn nicht gleichzeitig das Suchen der sonderpädagogischen Pioniere mit ihrer Ausrichtung auf bestmögliche soziale Integration(mit Argumenten wie Entlastung im Schonraum der Sonderklasse, fachspezifische Betreuung, behutsame Vorbereitung auf die berufliche und soziale Eingliederung) als(heute in Frage gestellte) humane Vision gewürdigt wird.
® Neben den Humanitätsansprüchen, wie sie von Häberlin vertreten werden, sind kürzlich in der Fachwelt die Ansichten des prominenten deutschen Erziehungswissenschaftlers und Sonderpädagogen Bach(1990) bekannt geworden, der ja/ nein-Bekenntnisse zur schulischen Integration Behinderter auch ethisch in Frage stellt und Kriterien aufzeigt, welche ein
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991