Hans Grissemann+
Die schulische Integration in der Schweiz
jeweils dienliches Ausmaß von Integration indizieren. Dabei versucht er, behindertengereche Humanität von den Bedürfnissen Beeinträchtigter und von den erzieherischen Notwendigkeiten abzuleiten. Damit wird einer ideologischen fremdbestimmten Integration entgegengetreten.
Eindeutig positives Ergebnis der Forschungsbemühungen und der Medienaktivität: Integration ist im Gespräch; auch in kritischen und kontroversen Auseinandersetzungen wird nach pädagogischen Fortschrittsmöglichkeiten gesucht.
Hoffnungen und Befürchtungen
Als Initiant der Organisation von sonderpädagogischen Integrationsformen, der aber an den beiden Forschungsprojekten nicht beteiligt war, setze ich mich mit diesen aus mittlerer Distanz auseinander. Eine erste Beurteilung der Situation nach Sichtung der Forschungsberichte sei vorangestellt:
® Die Ergebnisse der Freiburger Gruppe verweisen insgesamt auf Vorteile der integrativen Lösung. Diese Folgerung ist aber nur zulässig im Vergleich mit dem heutigen Sonderklassensystem und dem darin realisierten Lernbehinderungskonzept.
Wir wissen aber immer noch nichts über die möglichen Auswirkungen eines innovativen Kleinklassenkonzeptes mit ausdrücklicher Integrationsorientierung.
® Dabei wären Innovationsansätze zu beachten, wie sie von Bruderer(1990) unter dem etwas irreführenden Titel„„Lernbehinderte brauchen eine besondere Didaktik‘“ vorgestellt worden sind. In seiner Darstellung vertritt er Maßnahmen, welche eigentlich dem sonderpädagogischen Normalisierungsprinzip entsprechen und eine Abkehr von der alten Reduktionsdidaktik für Sonderklassen bedeuten(mit allgemein didaktischen Zielsetzungen und Methoden wie operative Didaktik, handelndes Lernen, Sprachhandeln, Ergänzung der Lernspiele durch zweckfreie Spiele, didaktische Ansätze, welche in der sonderpädagogischen Situation in einer flexiblen und dem
individuellen Förderbedarf angepaßten Lernzielorientierung eingebracht werden können).
® Die Zürcher Untersuchungen geben wichtige Hinweise zur Optimierung der Integration über die Kooperation verschiedener Verantwortlicher, über mehrperspektivische Problembetrachtung, über progredierte Lernprozesse der beteiligten Fachkräfte.
Wir wissen aber nichts über die Auswirkungen eines solchen Kooperationsmusters in einem neuen Kleinklassenmodell,
® Beide Untersuchungen beziehen sich auf Schüler vom vierten bis sechsten Schuljahr. Der Prävention und Rehabilitation von Lernbehinderten werden aber gerade auf den drei ersten Klassenstufen die größten Chancen eingeräumt.
Wir haben nach dem Abschluß der beiden Forschungsprojekte weder empirische Hinweise auf die Auswirkungen separativer Frühförderung(beispielsweise in einer Ausweitung des Einschulungsklassenkonzepts über das erste Schuljahr hinaus) noch über die Auswirkungen früh angesetzter ambulanter sonderpädagogischer Maßnahmen.(Einschulungsklassen in der Schweiz: Zweijahreskurse für den Stoff des ersten Schuljahres für lernbehinderungsbedrohte Schulanfänger.)
® Beide Untersuchungen lassen Fragen offen im Hinblick auf die Vorbereitung zur Lebensmeisterung Lernbehinderter. Diese Fragen beziehen sich auf die sprachliche Kommunikation, zu welcher wir in den beiden Forschungsberichten erst diskrete Andeutungen finden, und auf die Auswirkungen psychosozialer Belastungen in gewissen familiensystemischen Konstellationen. Diese werden in den Kriterien, die in den Untersuchungen herausgestellt werden(wie Beurteilung des Klassenklimas, Selbsteinschätzung der Begabung, Ausmaß der Beliebtheit und Integriertheit) kaum erfaßt.
Integrationsforschung ist unvollständig, wenn sie über die Feststellungen zur Integration in der Schulklasse und über den Leistungsvergleich mit nichtintegrierten Lernbehinderten hinaus sich nicht auf Merkmale und Bedingungen der nachschulischen Integration ausrichtet,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991
Diese Vorbehalte signalisieren, daß nicht voreilig administrativ reglementarische Fixierungen erfolgen dürften, welche wieder zu„„Innovationen“‘‘ in der gegenteiligen Richtung führen könnten.
Die Organisationsmuster
zur schulischen Integration als Gegenstände der beiden Forschungsprojekte im Vergleich
Die„Heilpädagogische Schülerhilfe*‘, eine Förderinstitution für schulschwache Schüler, die in Regelklassen integriert bleiben, bezieht sich auf Anregungen und Modellvorschläge, die ich seit 1978 in der deutschen Schweiz entwickelt hatte(Wyrsch 1987, Grissemann 1981, Grissemann 1978). Solche sonderpädagogischen Ambulatorien, in welchen Sonderpädagogen ohne Sonderklassen(Schultherapeuten) wirken, wurden auf Initiative einer Arbeitsgruppe der Innerschweizer Heilpädagogischen Gesellschaft seither in verschiedenen Gemeinden der deutschen Schweiz eingerichtet. Starke Impulse zu solchen Innovationen gingen auch von Walliser Sonderklassenlehrern aus.
Mit welchen Funktionen der Heilpädagogischen Schülerhilfe bei der Freiburger Untersuchung gerechnet wurde, wird im Untersuchungsbericht(Häberlin, Bless, Moser& Klaghofer 1990) folgendermassen umrissen:
— als Stützunterricht in Kleingruppen, mit didaktisch flexibler Ausdehnung von Lernphasen, aber immer ausgerichtet auf den Unterricht in der Regelklasse;
— als pädagogisch-therapeutische Maßnahmen, nach der Freiburger Darstellung hauptsächlich ausgerichtet auf Basisfunktionen, mit Trainings, die nicht mehr direkt zum Unterricht in Beziehung stehen, aber Grundlagen für erfolgreiches Lernen verschaffen sollten;
— als individualisierende Hilfe durch Mitarbeit des Sonderpädagogen im Klassenunterricht.
Als Möglichkeiten der Kooperation der Beteiligten(Regelklassenlehrer, Sonder
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