Zur Epidemiologie von Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen bei Vorschulkindern
Ergebnisse einer Screening-Untersuchung— Konsequenzen für die Gestaltung eines angemessenen Betreuungssystems'
Von Toni Mayr
Nach einigen theoretischen Anmerkungen zur klinischen Relevanz von Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen bei Kindern im Vorschulalter werden die Ergebnisse einer Screeninguntersuchung in 70 Kindergärten und 3 Sondereinrichtungen für stark sprachbehinderte Kinder referiert. Informiert wird über die Prävalenz und Schwere verschiedener Symptome sowie über den Einfluß von Alters- und Geschlechtsfaktoren. In der theoretischen Diskussion wird insbesondere auf die praktischen Schlußfolgerungen aus der epidemiologischen Situation für die Gestaltung geeigneter Betreuungssysteme(a) und einige spezielle Probleme bei der ambulanten sonderpädagogischen Förderung sprachauffälliger Kinder in der Regeleinrichtung(b) Bezug genommen.
A brief theory-based introduction on the clinical relevance of language, speech and communication disorders in preschool children is followed by a report on the results of a screening investigation in 70 kindergartens and 3 special institutions for children with speech disorders. Information is presented on the prevalence and severity of different symptoms as well as the influence of age and sex-factors. In the theoretical discussion particular reference is made to the practical consequences of the epidemiological situation for the development of adequate therapeutic systems(a), and to some specific problems concerning the ambulant treatment of children with language and speech disorders in regular preschool institutions(b).
Die Früherkennung und-behandlung kindlicher Entwicklungsstörungen gehört zu den zentralen Anliegen eines effizienten Öffentlichen Gesundheitswesens. Was verschiedene sprachliche Behinderungen und Auffälligkeiten betrifft, lag, dies dokumentieren etwa auch die beiden einschlägigen Gutachten für den Deutschen Bildungsrat von Sander (1973) und Knura(1974), der Schwerpunkt der Bemühungen zunächst auf der Identifizierung und Behandlung solcher Störungen bei Kindern im Schulalter. Demgegenüber ist in den letzten
1 Die Arbeit entstand im Rahmen des Modellversuchs„Gemeinsame Förderung behinderter und nichtbchinderter Kinder im Elementarbereich‘‘, der durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft
Förderungsvorhaben A 6162— anteilig gefördert wurde.
Jahren insofern eine gewisse Akzentverschiebung zu beobachten, als neuere Forschungsarbeiten(vgl. z.B. Castell et al. 1977, 1980; Fried 1985; Jenkins et al. 1980; Lerner et al. 1985; Paul et al. 1983) sich zunehmend mit Fragen der Epidemiologie, Diagnostik und Therapie von Sprachstörungen bereits bei Vorschulkindern auseinanderzusetzen.
Was die klinische Relevanz von Sprach?-, Sprech®- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter betrifft, wird zwar von Westrich(1978) und Cromer(1981) darauf hingewiesen, daß in diesem Alters
2 Der Index verweist im Text jeweils darauf,
daß der Begriff Sprachstörung an dieser
Stelle in einem eingeschränkten Sinn
(language disorder) gebraucht wird.
3 Die Begriffe ‚Artikulationsstörung‘, ‚Sprechstörung‘ und ‚Stammeln‘ werden synonym gebraucht.
HEILPÄDAGOGISCHE
abschnitt noch ganz im Rahmen der Normalität z.T. beträchtliche interindividuelle Entwicklungsunterschiede bestehen, die eine allzu frühe, an hypothetischen Durchschnittsnormen orientierte Diagnostik durchaus problematisch erscheinen lassen, doch können viele sprachliche Abweichungen schon relativ früh mit ausreichender Sicherheit diagnostiziert werden: Artikulationsstörungen bei Vierjährigen(Fried 1985), Dysgrammatismus nach Vollendung des vierten (Remschmidt und Niebergall, 1985), Sprachentwicklungsverzögerungen gegen Ende des dritten Lebensjahres(Kilens 1980; Tent et al. 1984). Auch das erste Auftreten von Stottersymptomen kann (vgl. z.B. Böhme 1977; Fiedler und Standop 1978) typischerweise bereits im Vorschulalter beobachtet werden; ähnliches gilt, wie die Arbeiten von Hayden
FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990