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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Toni Mayr*

Zur Epidemiologie von Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen

BELLA

(1980) und Wright et al.(1985) zeigen,

für den elektiven Mutismus.

Aus epidemiologischen Studien z.B. von

Castell et al.(1977, 1980), v. Arents­

schild(1983) oder Astor-Schuster(1985)

geht hervor, daß die Häufigkeit solcher

Störungen auch ohne Intervention über

das Vorschul- und frühe Schulalter hin­

weg insgesamt zwar abnimmt, doch zei­gen die Untersuchungen zur Persistenz von Klackenberg(1971), Sheridan&

Peckham(1975), Richman et al.(1982)

und Lichtenstein(1984), daß mit einer

solchen ‚spontanen Remission nur be­grenzt gerechnet werden kann. Dabei kann davon ausgegangen werden, daß sprachgestörte Vorschulkinder in vielen

Fällen auch bereits ein entsprechendes

Störungsbewußtsein entwickeln. Ent­

wicklungspsychologische Forschungen

zeigen, daß, entgegen früheren Vermu­tungen, schon Vorschulkinder über recht gut entwickelte metalinguistische Fähig­keiten verfügen(Smith& Tager-Flusberg

1982) und in der Lage sind, sich in ihrem

Sprachverhalten auf das jeweilige lingu­

istische Niveau ihres Interaktionspart­

ners einzustellen(Maratsos 1973; Masur

1978; Menig-Peterson 1975). In. der

Folge führen Verzögerungen in der

Sprachentwicklung zu charakteristischen

Veränderungen in den sozialen Beziehun­

gen zwischen sprachgestörten und nor­

malen Kindern(Siegel et al. 1985).

Der zumindest potentiell pathologi­

sche Charakter früher Sprach?-, Sprech­

und ‚Kommunikationsanomalien ergibt sich schließlich aus deren vielfältigen

Assoziationen zu anderen Entwicklungs­

auffälligkeiten. Tatsächlich scheint es

sich, bei sprachlichen Anomalien oft nur um diejenigen Teilaspekte breiterer Stö­rungsbilder zu handeln, die am frühesten

ins Auge fallen(Brack 1986 b):

So sind artikulationsgestörte(Castell et al. 1977, 1980) und sprachentwick­lungsverzögerte Kinder(Rogner& Hoffelner 1981; Tent et al. 1984; Amorosa et al. 1986 a) häufig auch im motorischen Bereich auffällig.

Arbeiten z.B. von Stevenson& Rich­man(1976, 1978), Cantwell et al. (1979), Amorosa et al.(1986 b) oder McGuire und Richman(1986 a,b) do­kumentieren Beziehungen zwischen

Sprach?- bzw. Sprechstörungen einer­seits und psychiatrisch relevanten Ver­haltensstörungen andererseits.

Eine dritte Gruppe von Untersuchun­gen beleuchtet schließlich die vielfäl­tigen Beziehungen zwischen Sprech­und Sprachstörungen? auf der einen und kognitiven Defiziten auf der an­deren Seite. Epidemiologische Arbei­ten von Rutter& Yule(1975) und Jorm et al.(1986) zeigen etwa, daß Kinder mit Lese-Rechtschreibschwä­chen häufig auch im sprachlichen Be­reich auffällig sind. Die Metaanalyse von mehr als tausend empirischen Studien über Lernbehinderung durch Kavale& Nye(1985/86) ergibt, daß insgesamt der Bereich der sprachli­chen Defizite am besten zwischen Lernbehinderten und Nichtlernbehin­derten trennt besser als Schullei­stungen, neuropsychologische Variab­len und verschiedene Aspekte des So­zialverhaltens. In der Tendenz zeich­nen sich solche Zusammenhänge be­reits im Vorschulalter ab(vgl. hierzu genauer die Studien von Lichtenstein 1984; Tent et al. 1984 und Kluge 1985).

Alle bisher angeführten Aspekte Dia­

gnostizierbarkeit, Persistenz, das Vor­

handensein eines Störungsbewußtseins mit den daraus sich ergebenden Konse­quenzen für die Persönlichkeitsentwick­lung eines Kindes und dessen soziale

Position in der Bezugsgruppe Gileich­

altriger und, nicht zuletzt, die Signal­

funktion für andere Anomalien und

Entwicklungsstörungen unterstreichen

die Notwendigkeit, sprachliche Auffäl­

ligkeiten möglichst schon im Vorschul­alter zu identifizieren, um rechtzeitig geeignete präventive bzw. rehabilitative

Maßnahmen einleiten zu können,

Im Bereich der Bundesrepublik wird die­

sem Gesichtspunkt zunehmend Rech­

nung getragen, wobei in der konkreten

Ausgestaltung entsprechender Betreu­

ungssysteme aber regional durchaus un­

terschiedliche Akzente gesetzt werden

(vgl. v. Arentsschild 1983; Braun 1983

und Kaplan 1986). Im pädagogischen

Bereich stand, dem allgemeinen Trend

in der Sonderpädagogik folgend, zu­

nächst der Ausbau spezifischer Sonder­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990

einrichtungen im Vordergrund. Mittler­weile vorliegendes Wissen über die spe­ziellen Probleme bei der Förderung in Sonderinstitutionen(vgl. z.B. Feuser 1987; Mayr 1981, 1982) und positive Erfahrungen mit der Erprobung sozial­integrativer Konzepte(vgl. Lipski 1987; Reiser et al. 1987) haben in den letzten Jahren dazu geführt, daß auch sprachbe­hinderte und-auffällige Kinder immer mehr in der Regeleinrichtung Kindergar­ten spezifisch gefördert werden(vgl. hier­zu die Arbeiten von Gross& Müller 1983; v. Hindenburg 1986; Hüffner und Mayr 1885, 1989 und Kroppenberg 1983). Die für die Entwicklung solcher Betreuungs­systeme notwendigen gesundheits- und sozialpolitischen Entscheidungsprozesse setzen bei sprachlichen Auffälligkeiten, wie bei allen anderen Störungen, eine befriedigende Klärung deren Häufigkeit voraus(Knura 1980; Crowther et al. 1981; Richman et al. 1982). Valide In­formationen hierzu bestimmen, zusam­men mit Erkenntnissen über die Schwere einer Störung und über ihre Relevanz (Kosten für Behandlung bzw. Kontrolle), deren gesellschaftliche Bedeutung(Boyle und Jones 1985); sie geben darüber hin­aus aber auch wertvolle Hinweise darauf, wie solche Betreuungssysteme qualitativ und quantitativ auszulegen und zu ge­stalten sind.

Vorgehen

Die Ermittlung sprachlicher Auffälligkei­ten erfolgte hier im Rahmen des sog. Passauer Modells. Dabei handelt es sich (vgl. Zirnbauer& Brandhuber 1986, 1987) um einen Modellversuch, in dem in ei­nem abgestuften Versorgungssystem nur eine kleine Minderheit sprachgestörter Kinder in drei Sonderschulen angeschlos­senen Sondergruppen, sog. Schulvorbe­reitende Einrichtungen(SVEs) mit je­weils bis zu 8 Kindern, betreut wird, während die überwiegende Mehrzahl im Regelkindergarten von Sprachheillehrern und Heilpädagogischen Unterrichtshilfen (HPUs) spezifisch gefördert wird. Fünf Teams, jedes bestehend aus einem Sprach­heillehrer und einer HPU, betreuen die Kindergärten einer bestimmten Region.

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