Toni Mayr>
Das Modell umfaßt gegenwärtig alle 70 Kindergärten der Stadt und des Landkreises Passau mit insgesamt(einschließlich der SVEs) 5095 Kindern.
In jedem Kindergarten werden zu Beginn des Kindergartenjahres diejenigen Kinder dem Sonderpädagogenteam zu einer genaueren diagnostischen Abklärung vorgestellt, bei denen die Gruppenerzieherin aufgrund von Anfangsbeobachtungen das Vorliegen einer Sprachstörung für möglich hält. Als Ergebnis dieser insgesamt etwa 2 bis 3 Wochen dauernden Diagnosephase wird für jeden Bereich ein Einsatzplan für die ambulante Förderung erstellt. Unabhängig von dieser ersten Grobscreeningphase besteht natürlich über das gesamte Jahr hinweg die Möglichkeit, einzelne Kinder, die der Erzieherin erst später auffallen, zwecks Diagnose und eventueller Förderung vorzustellen. Bei der Ermittlung der Prävalenzraten für die einzelnen Auffälligkeiten wurde, in Anlehnung an das Vorgehen bei vergleichbaren epidemiologischen Studien und nicht zuletzt auch wegen des Fehlens eines allseits akzeptierten Klassifikationsmodells für Sprachstörungen(vgl. zu dieser Problematik genauer Amorosa 1984, Grohnfeld 1982 und Knura 1980) auf eine deskriptiv-phänomenologische, d.h. symptombezogene und nicht an komplexen Syndromen oder pathogenetisch definierten Krankheitsbildern orientierte Einteilung zurückgegriffen. Die Diagnosen wurden nach einem Schema mit insgesamt 7 Störungskategorien— Artikulationsstörungen, Sprachstörungen?, Stottern, Poltern, Näseln, Stimmstörungen und elektiver Mutismus— geordnet. Eine 3-stufige Einordnung(leicht(1) mittel(2) schwer(3)) sollte zusätzliche Informationen über den Ausprägungs- bzw. Schweregrad jeder Symptomatik erbringen.
Für die Erhebung wurden alle Diagnosen berücksichtigt, die von Oktober 1985 bis März 1986 im Bereich des Modellversuchs gestellt wurden. Um mögliche Unsicherheiten, die sich aus einer Diagnostizierung von Sprachstörungen vor dem vierten Lebensjahr ergeben könnten, zu vermeiden, beschränken wir uns bei der folgenden Darstellung der Ergebnisse auf die Altersgruppen der 4, 5 und 6jäh
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Zur Epidemiologie von Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen
Tabelle 1: Symptombezogene Häufigkeiten von Sprachbehinderungen unterschiedlicher
Ausprägung leicht mittel schwer total f%%? f%%? f%%? f%%?
Artikulationsstö- 293 66 43.6 253 5.7 37.7 45 1.0 6.7 91 13.3 88.0 störungen
Sprachstörungen? 40 0.9 6.0 84.1.9 12:5. 66 1.5 9,8 190 4.3 28.3 Stottern 90.2 1:3 24 0.5 3.6 6 0.1 0.9 39 0.9 5.8 Poltern A a— 1 0.0 0.2 1 0.0 0.2 Näseln 1 0.0 0.2 5 0.1 0.7 4 0.1 0.6 10 0.2 1.5 Stimmstörungen 3 0.1 0.5 2 0.0 0.3= 8 5 0.1 0.7 mutistisches
Verhalten 3 0. 0.5 5 0.1 0.7 2 0.0 0.3 10 0.2 0.5
) bezogen auf die Stichprobe aller 4-, S- und 6-jährigen(N= 4459) ? bezogen auf die Stichprobe aller sprachgestörten Kinder dieses Alters(N=672) 3 Sprachstörungen im engeren Sinn(language disorders)
rigen(Stichtag für die Altersberechnung war der 1.1.1986).
Ergebnisse(1)— Prävalenzraten
Eine erste Analyse ergibt, daß im beschriebenen Untersuchungsbereich insgesamt 672 Kinder in irgendeiner Form sprachlich auffällig waren. Bezogen auf die Gesamtzahl aller hier betreuten Kinder im Alter von 4, 5 und 6 Jahren (N=4459) errechnet sich daraus eine Prävalenzrate(‚period prevalence‘ i.S. von Schär 1975) von 15,1 Prozent. Nähere Aufschlüsse, um welche Störungen es sich dabei im einzelnen handelt, vermittelt die Aufschlüsselung dieser Insgesamt-Prävalenz nach den verschiedenen hier erfaßten Störungskategorien in Tabelle 1.
Bezogen auf die Art der Störung zeigt sich, daß es sich bei den im Kindergarten beobachtbaren sprachlichen Auffälligkeiten zum bei weitem überwiegenden Teil um Artikulationsstörungen handelt: 13,3% aller Kinder und 88% aller Sprachauffälligen haben danach Schwierigkeiten, einen oder mehrere Laute bzw. Lautverbindungen adäquat zu bilden; was die Ausprägung betrifft, dominieren quantitativ die leichteren und mittleren Schweregrade. Erst mit großem Abstand hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens folgen dann i.e.S. sprachliche? Auffälligkeiten(4,3% bzw. 28,3%) und das Stottern(0,9% bzw. 5,8%). Im
HEILPÄDAGOGISCHE
Unterschied zum Stammeln wurden bei den beiden zuletzt genannten Störungen überwiegend mittlere bzw. schwere Ausprägungen beobachtet.
Bei allen bislang angeführten Zahlen ist zunächst zu berücksichtigen, daß es sich um symptombezogene Häufigkeiten handelt. Da die einzelnen Auffälligkeiten nicht nur monosymptomatisch auftreten, wurden für die 3 häufigsten Störungskategorien auch klientenbezogene Häufigkeiten berechnet(vgl. Tab. 2). Insgesamt wiesen danach 646 Kinder, d.h. 96,3% aller erfaßten Sprachauffälligen zumindest eine der 3 Störungen: Stammeln, Sprachauffälligkeit? und Stottern auf. Aufgegliedert nach Anzahl der angetroffenen Symptome ergaben sich im einzelnen die folgenden Frequenzen:
— 512 Kinder, d.h. 11,5% aller bzw. 79,3% aller(646) Sprachbehinderten zeigten ein
— 126 Kinder, d.h. 2,8% bzw. 19,5% zwei und
— 8 Kinder, d.h. 0,2% bzw. 1,2% drei Symptome.
Ergebnisse(2)— alters- und geschlechtsspezifische Verteilung
Es wurde bereits eingangs darauf hingewiesen, daß das Auftreten von Sprachbzw. Sprechanomalien mit dem allgemeinen Entwicklungsniveau, d.h. auch mit dem Lebensalter der Kinder(negativ) kovariiert.
FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990