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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Petra Bee-Göttsche*

Phonemische Bewußtheit

Bislang galt das Forschungsinteresse, hauptsächlich der Aufklärung der Rich­tung des Zusammenhangs zwischen pho­nemischer Bewußtheit und der Leselei­stung. Die Möglichkeit einer zeitlichen Veränderung der Rolle phonemischer Bewußtheit innerhalb des Leseprozesses fand dabei keine Beachtung. Es verwun­dert daher nicht, wenn die beiden fol­genden Untersuchungen ausschließlich als Beweis dafür gesehen werden, daß Kinder bei der Phonemsegmentierung bereits auf Schriftsprachkenntnisse an­gewiesen sind.

Ehri& Wilce(1979) baten neun- bis zehnjährige Kinder, Paare von Wörtern zu lautieren, bei denen die Zahl der Pho­neme, nicht aber die Zahl der Buchsta­ben übereinstimmte(‚pitch rich, ‚new do). In 13,7 von 24 Wörtern mit Extra-Buchstaben nahmen die Kin­der unter dieser Bedingung ein zusätzli­ches Phonem wahr, im Vergleich zu 0,6 von 24 Wörtern ohne Extra-Buchstaben. Tunmer& Nesdale(1985) fanden in ähnlicher Weise ‚overshoot Fehler bei der Phonemsegmentierung von Doppel­Vokal(ee, oo) Wörtern.

Die Ergebnisse beider Untersuchungen wurden als Beleg dafür gewertet, daß der Leseunterricht erst zum Erwerb phone­mischer Bewußtheit führt. Eine andere Interpretation wird allerdings von Beech (1987) und Henderson(1985) nahege­legt. Sie weisen darauf hin, daß Phonem­analyse und Phonemsynthese allein nur so lange ausreichend sind, wie sich der Unterricht auf lautgetreue Wörter be­schränkt. Leseanfänger sind deshalb schon bald darauf angewiesen, diese Strategien mit visuellen Wortbildstrate­gien zu kombinieren. Phonemische Be­wußtheit ist damit zwar eine notwendi­ge Bedingung für den Schriftspracher­werb, aber keine hinreichende(Tunmer & Nesdale, 1985).

Die Ergebnisse von Ehri& Wilce(1980) und Tunmer& Nesdale(1985) beschrei­ben nichts anderes, als daß Neunjährige längst keine Leseanfänger mehr bei der Phonemsegmentierung auf Wortbild­kenntnisse zurückgreifen und sich da­durch die Aufgabe erleichtern können. Sie sagen nichts über die Bedeutung

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phonemischer Strategien am Anfang des Leselernprozesses aus.

2. Dem Zusammenspiel verschiedener Strategien beim Leselernprozeß sollte vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Beech(1988) weist darauf hin, daß es gerade die Integrationsleistung von Teil­strategien ist, die für den Schriftsprach­erwerb kennzeichnend ist. Lesen verlangt die überlegte Koordination verschiede­ner Aufgaben. So muß der Anfänger während des Lesens entscheiden, welche visuellen Merkmale zum Erkennen eines Wortes hinreichend sind, ob er es und wenn ja in welche Segmente er es teilt, ob das Wort im Satz einen Sinn er­gibt, oder auch, wann ein Zurückgreifen auf das langsame und schrittweise Vor­gehen der Phonemsynthese notwendig wird.

Daraus folgt die Überlegung, welche Er­wartungen auf ein isoliertes Komponen­tentraining hinsichtlich des Ziels der Verbesserung der Leseleistung gesetzt werden können. Ein Argument, das für das gemeinsame Training von Teilstrate­gien spricht ist, daß damit die Probleme

einer anschließenden Reintegration ent-­

fallen würden. Beech(1988) wertet die Überlegenheit der zweiten gegenüber der ersten Experimentalgruppe in der Unter­suchung von Bradley& Bryant(1983, s.0.) bereits als Bestätigung dafür, daß die kombinierte der einzelnen Vermitt­lung von Strategien vorzuziehen ist. Dies erscheint jedoch verfrüht. Endgültige Aufklärung könnte nur der Vergleich zwischen einer Gruppe bringen, die zu­nächst phonemische Bewußtheit und dann Buchstaben-Laut-Korresponden­zen lernt, mit einer anderen, der wäh­rend der gleichen Zeitdauer beide Stra­tegien zusammen vermittelt werden. Bei der Untersuchung von Bradley& Bryant (1983) bleibt offen, ob die Kinder der zweiten Gruppe einfach nur qualitativ mehr gelernt haben.

3. Es ist zu klären, welche Fertigkeiten Voraussetzungen sind, um Aufgaben, die phonemische Bewußtheit verlangen, lösen zu können.

Nachdem die Bedeutung der Phonem­analysefertigkeit für das Lesenlernen dar­gelegt worden ist, stellt sich die Frage

nach den Voraussetzungen, die ein Kind braucht, um erstere erwerben zu kön­nen. Etwa mit Golinkoff(1978, S. 39): ... What are the entry skills of the children for whom these training pro­grams will work? Es sollte daran erin­nert werden, daß phonemische Bewußt­heit bei Vorschulkindern nur in Test­training-Messungen ihre Beziehung zur Leseleistung gezeigt hat. Es ist hier also die Fertigkeit, phonemische Bewußtheit innerhalb bestimmter Zeit zu erlernen, die die Leseleistung vorhersagen kann und nicht ihr Vorhandensein an sich.

Schluß: (Praktische) Konsequenzen der Überlegungen

Der Erwerb phonemischer Bewußtheit ist notwendig für den Schriftspracher­werb(Tunmer& Nesdale, 1985), ande­rerseits ist auch die umgekehrte Kausal­richtung möglich: durch zunehmende Erfahrung mit der Schriftsprache wird diese Strategie gefördert. Damit wird der Auffassung von Ehri(1979) wider­sprochen, wonach sich die Funktion phonemischer Bewußtheit allein auf die einer erleichternden Bedingung be­schränkt. Daß Lesenlernen auch ohne phonemische Bewußtheit möglich ist, erscheint für den Normalfall nicht durch empirische Belege gestützt. Der Ansatz Phonemische Bewußtheit bietet sich damit als Ausgangspunkt weiterer For­schungstätigkeit zur Prävention der LRS an.

Die am Anfang dargestellten Argumente machen nur einen Teil der Kritik aus. Größtenteils ist es eher einUnbeha­gen, das gegen die Förderung phonemi­scher Bewußtheit im Kindergarten vor­getragen wird. Dazu gehört der Hinweis, daß phonemische Bewußtheit, wie das Lesen auch, eine künstliche Fähigkeit darstellen und ihr Erwerb außerhalb des Leseunterrichts daher keinen Sinn ma­chen würde(scheinbar kommt der Schu­le allein das Privileg zu, sogenannte künstliche Fertigkeiten auszubilden). Die Arbeit von Wallach& Wallach(1976) zeigt, daß die Zugehörigkeit zu einer so­zialen Klasse oft darüber entscheidet,

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990