Editorial
In diesem Heft sind vier Aufsätze zur Geschichte der Heilpädagogik vereinigt. Die zur Mitarbeit aufgeforderten Autoren sind gebeten worden, Beiträge zur Geschichte der Heilpädagogik beizusteuern unter dem Gesichtspunkt, daß uns Geschichte etwas zu sagen hat.„Geschichte“ ist ein doppelsinniges Wort. Mit Geschichte kann das Geschehen selbst gemeint sein. Mit Geschichte kann aber auch das erzählte, reflektierte und analysierte Geschehen gemeint sein. Geschichte spricht zu uns, wenn wir uns den Worten und Rufen der Leidenden öffnen.„Alle Geschichte ist ausgesprochene, ausgesagte Geschichte; darum kann der Historiker nicht wie ein anderer Wissenschaftler von Objekten ausgehen, die er beherrscht. Er kann nicht von der Geschichte das abstreifen, was die Menschen, an denen sie geschehen ist und geschieht, selber über sich und sie aussagen“(Rosenstock-Huessy, 1958, S. 86).
Das erfordert, daß die Menschen und ihre Leiden und Mühen ernst genommen werden. Die Geschichtsschreibung in der Heilpädagogik in unserer Zeit wird direkt oder indirekt geprägt von den einschneidensten Ereignissen in unserem Jahrhundert. Es sind schreckliche, ineinander verschlungene Ereignisse: die Weltkriege I und II, die Oktoberrevolution 1917 in Rußland, die Konterrevolution 1933 in Deutschland. Es hat lange gedauert, bis sich die Heilpädagogik in Deutschland den Verbrechen der Nazizeit zugewandt hat. Mehr und mehr stellt sich heraus, daß die Erschütterung wachgehalten werden muß, wenn wir sensibel bleiben sollen gegenüber immer noch bestehenden Gefahren. Heilerziehung und noch mehr Heilpädagogik sind jung. Was noch schwach und gefährdet ist, muß geschützt werden. Geschichtsschreibung ist in diesem Sinne nicht völlig neutral. Die dankbare Anerkennung vergangener Leistungen, die klare Absage an vergangene Versäum
nisse und Fehler und schließlich die Ldssagung von den Verbrechen gehören zur Geschichtsschreibung dazu. Es ist erfreulich, daß in den letzten Jahren Arbeiten zur Geschichte der Heilpädagogik zahlreicher erschienen sind als früher, wenngleich auch noch viele Themen wenig bearbeitet sind(Höck, 1979; Jantzen, 1982; Klee, 1983; Solarova, 1983; Aly, 1985; Ellger-Rüttgardt, 1987; Möckel, 1988; Rudnick, 1990). Erfreulich ist auch, daß heilpädagogische Themen in Arbeiten zur Geschichte der Pädagogik aufgenommen werden(Hermann& Oelkers, 1989). Die Pädagogik kann nur gewinnen, wenn sie als Antwort auf die Nazizeit die Geschichte der Aussonderung und Verfolgung jüdischer und behinderter Kinder als ihre Geschichte versteht.
Im Beitrag zu diesem Heft untersucht Ellger-Rüttgardt die Auswirkungen der in Deutschland entstandenen Hilfsschule auf Frankreich. Dieser Beitrag zur vergleichenden Pädagogik ist lehrreich, weil Probleme der Hilfsschule sichtbar werden, die auch heute noch eine Rolle spielen. Man muß bedenken, daß die Hilfsschule um die Jahrhundertwende in einem viel stärkeren Maße als heute eine heilpädagogische Aufgabe für Kinder wahrnehmen konnte und sollte, die im Schulunterricht zurückgeblieben waren, und zwar aus welchen Gründen auch immer, Es ging unter anderem um die Frage einer selbständigen, heilpädagogischen Schule mit dem Ziel der Emanzipation und beruflichen Rehabilitation, was in einer Konzeption berücksichtigt werden konnte oder auch nicht. Und es ging um Freiwilligkeit oder Zwang beim Besuch dieser neuentstandenen heilpädagogischen Schule. Das sind Fragen, die damals und heute auch in Deutschland wieder aktuell sind. Der Spiegel, den EllgerRüttgardt der deutschen Hilfsschule mit dem Bericht über die Diskusion in
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990
Frankreich vorhält, wirft die Frage auf, ob Schulverwaltungen und Verwaltungsgerichte in Deutschland mit dem Elternrecht in dieser Beziehung wie in einer liberalen Republik oder wie in einem Obrigkeitsstaat mit ständischen Strukturen umgegangen sind und umgehen. Emil Kobi wendet auf die Geschichte der Heilpädagogik vier soziologische Begriffe an und gibt damit eine Standortbestimmung der Behindertenfürsorge, die sich nach seiner Analyse zur Zeit in einer widersprüchlichen Situation befindet. Nicht nur das paradox formulierte Ergebnis seiner Untersuchung ist bemerkenswert, sondern auch die Auswahl der die Analyse leitenden Begriffe. Sie legen den Gedanken an ein Kreis- oder Spiralmodell zum Verstehen der Geschichte nahe,
Ich habe meinen eigenen Beitrag vorbereitet, bevor ich den Aufsatz von Emil Kobi gelesen hatte. Ich folge einem anderen Prinzip, aber es entspricht dem Beitrag von Kobi insofern, als in ihm ebenfalls ein systematischer Begriff, der Begriff ‚Paradigma‘ von Thomas S. Kuhn, verwendet wird. Diesem Konzept liegt der Gedanke einer fortschreitenden Geschichte zugrunde, in der es zwar Rückschritt oder Stillstand, aber keine Kreisbewegungen gibt. Die Geschichte öffentlicher Erziehung anfallskranker Kinder oder ihre Erziehung in öffentlichen Schulen verdient Aufmerksamkeit, weil sie weniger als andere Gruppen von behinderten Kindern von Pädagogen verteidigt worden sind. Ihr Schicksal in der Nazizeit zwingt zu der Frage, was Pädagogik, was Heilpädagogik angesichts dieser chronischen Krankheit ist.
Die Dokumentation ist ein Ausschnitt aus einem autobiographischen Bericht von Franz Mersi. Der zweite Weltkrieg bildet eine tiefe Zäsur in der Geschichte vieler heute an Hochschulen lehrenden Heilpädagogen. Persönliche Überzeu
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