Editorial
gungen und grundlegende Erfahrungen werden im wissenschaftlichen bestimmten Alltag der Hochschule meistens unterdrückt. Die nach objektiver Wahrheit strebende akademische Wissenschaft läßt es zwar zu, frei aber nicht aus dem Herzen zu sprechen. Vor fünfzig Jahren sind mitten in Europa zum Entsetzen der ganzen Welt in einem Volk, das sich rühmte, viele Dichter und Denker hervorgebracht zu haben, behinderte und kranke Kinder nach den Regeln eines wissenschaftlichen Programms verfolgt und ermordet worden. Das Unerhörte dieses von herzlosen Wissenschaftlern rechtfertigten Massakers ist lange verdrängt worden. Aufgearbeitet werden kann das Geschehen nicht, wenn man darunter eine endgültige Analyse versteht, die das Schreckliche verständlich macht und damit in den Ascheneimer der Geschichte befördert. Die Ereignisse können und müssen jedoch erinnert werden. Nur die wachgehaltene Erinnerung kann vor der Wiederholung bewah
Literatur
ren. Wenn ich richtig sehe, dann ging es im sogenannten Historikerstreit(Augstein u.a., 1987) um die Frage: Standhalten, trauern und erinnern oder Abstand nehmen und das Gras liberaler Vergleiche drüber wachsen lassen? Der Beitrag von Franz Mersi ist deswegen besonders wertvoll, weil er in anderer Weise als sonst üblich nach Dimensionen zu fragen anregt, die sonst im Binnengespräch der Fachpädagogen zu kurz kommen, weil sie vorschnell als unwissenschafschaftlich oder vorwissenschaftlich ausgeblendet werden. Die Heilpädagogen haben allen Grund, sich ihre vorwissenschaftlichen Grundentscheidungen klar zu machen, Es droht die Gefahr, daß rationale Irrationalisten in der naiven Überzeugung, Wissenschaft habe nichts mit imperativen Mächten zu tun, einen neuen Götzendienst in die Heilpädagogik einschleppen. Der Streit im Anschluß an die„Praktische Ethik“ von Peter Singer läßt nichts Gutes erwarten. Der Beitrag von Franz Mersi ist
ein hilfreicher Ausgangspunkt für eine Diskussion, die den Leser und Zuhörer im Bereich des Menschlichen und Konkreten hält und ihm doch Luft und Sprache läßt.„Anerkennung und Hervorrufung sind die beiden grundlegenden Akte in aller Geschichte‘(Rosenstock-Huessy, 1958, S. 89). Zur Mitarbeit an diesem Heft waren noch weitere Heilpädagogen aufgefordert. Leider mußten mehrere ihre Zusage, sei es aus gesundheitlichen, sei es aus Termingründen, absagen. Ich bedaure besonders, daß ein Beitrag der materialistischen Heilpädagogik fehlt und verweise auf den Tagungsbericht von Martin Rudnick(1990) und auf den Sektionsbericht zum Thema„Pädagogik und Nationalsozialismus‘“ vom Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Bielefeld 1990, herausgegeben von Christa Berg und Sieglind EllgerRüttgardt.
Andreas Möckel
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104
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HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990