Die Diskussion um die Beschulung
zurückgebliebener Kinder
in Frankreich um die Jahrhundertwende
Von Sieglind Ellger-Rüttgardt
Ausgehend von einem historisch-vergleichenden Ansatz, wird am Beispiel von Frankreich die Frage untersucht, warum eine Vielzahl europäischer Länder — trotz anfänglicher Bewunderung für die deutsche Hilfsschule— nicht wie in Deutschland ein voll ausgebautes und weit verbreitetes Hilfsschulwesen entwickelt haben. Dabei wird aufgezeigt, daß eine Vielzahl von Faktoren Ursache dafür ist, daß sich letztlich eine eigenständige Sonderschule für schulschwache Kinder in Frankreich nicht durchsetzen konnte,
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Using a historical-comparative method the following article discusses the phenomenon that several European countries did not develop the same school organization for slow learners as in Germany, despite their admiration for the German Hilfsschule at the end of the 19th century. Various factors are the reason for the fact that e.g. in France an independent and wide spread special school was never created for those who failed in regular school classes.
Heinrich Kielhorn, Motor und wichtigster Repräsentant der deutschen Hilfsschulentwicklung empfing in seiner Braunschweiger Schule zahlreiche Besucher. Das Gästebuch der Braunschweiger Hilfsschule verzeichnet neben inländischen auch ausländische Besucher unterschiedlicher Nationalitäten, darunter auch Persönlichkeiten aus Frankreich. Die Tatsache, daß deutsche Städte, die Hilfsschulen eingerichtet hatten, zu Beginn dieses Jahrhunderts Anziehungspunkte für ausländische Besucher waren, daß Deutschland zu diesem Zeitpunkt in verschiedenen Ländern als Vorbild und Modell für die Beschulung der Nachzügler und Zurückgebliebenen des allgemeinen Schulwesens galt, blieb in der Historiographie der Sonderpädagogik bisher unerörtert.
Dabei erscheint es unmittelbar einsichtig, daß die historisch-vergleichende Perspektive, aus der die geschichtliche Entwicklung gewissermaßen mit den Augen eines Außenstehenden betrachtet wird, nicht nur interessante Erkenntnisse im Hinblick auf die Besonderheiten der
Sonderpädagogik in anderen Ländern eröffnet, sondern zugleich die spezifisch deutsche Entwicklung in besonders pointierter Form darzustellen vermag. Wenn festzustellen ist, daß die gegen Ende des ausgehenden Jahrhunderts in Deutschland vermehrt eingerichteten Hilfsschulen für Experten verschiedener europäischer Staaten Modellcharakter hatten und zugleich bedacht wird, daß die seit etwa zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik geführte Integrationsdebatte hingegen auf die positiven Beispiele im europäischen Ausland verweist, so bieten sich unter systematischem Aspekt die für die Gegenwart relevanten Fragen geradezu von selbst an: Welches waren die Gründe, die vor nahezu einhundert Jahren auch im Ausland die Hilfsschule als eine attraktive pädagogische Neuerung erscheinen ließen? Und— nicht minder erregend—: Wie und warum entwickelte sich in Ländern wie etwa Frankreich, Großbritannien, Dänemark und Schweden im Laufe dieses Jahrhunderts ein pädagogisches Förderkonzept für„Zurückgebliebene“‘
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990
und„Schwachbegabte‘‘, das, zumindest vom gegenwärtigen Stand aus betrachtet, große Unterschiede zum eigenständigen und voll ausgebauten Hilfsschulwesen in Deutschland aufweist?
In der folgenden Abhandlung soll ein Aspekt der oben angedeuteten Fragestellungen‘ näher beleuchtet werden. Uns soll im weiteren die Frage interessieren, welche Resonanz die Gründungen der ersten deutschen Hilfsschulen in Frankreich fand, wie die Forderung nach schulischen Sonderformen begründet wurde und welche Form der Schulorganisation für die„leicht Debilen““ sich entwickelte.
Motive für die Forderungen nach Einrichtungen von Hilfsklassen und Hilfsschulen
1899 erschien in der französischen Zeitschrift„Revue philanthropique“ ein Aufsatz mit dem Titel„les enfants anormaux‘“(anomale Kinder), in dem sein
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