Sieglind Ellger-Rüttgardt
Verfasser bittere Klage darüber führte, daß Frankreich zwar die Ehre besitze, für die Erziehung Blinder(l’abbe€ de l’Epee et Valentin Haüy) und Geistigbehinderte (Itard, SEguin) bahnbrechende Methoden entwickelt zu haben, daß es aber hinsichtlich der Schaffung entsprechender Bildungsorganisationen weit hinter Ländern wie Dänemark, Großbritannien und Deutschland zurückstehe. Beklagt wurde der Mißstand, daß das Gesetz über die allgemeine Schulpflicht in Frankreich von 1882— im übrigen über hundert Jahre später als in Preußen— Bildungsmaßnahmen lediglich für Blinde und Taube vorsah,„Zurückgebliebene‘‘ und ‚Idioten‘ hingegen überhaupt nicht erwähnte und daß selbst für Blinde und Taube bislang keine praktischen Maßnahmen staatlicherseits ergriffen worden seien. Unter Berufung auf die Erklärung der Menschenrechte der einhundert Jahre zurückliegenden großen Revolution forderte der Autor Camailhac Erziehungsund Bildungsmaßnahmen für„anomale‘‘ Kinder, die bislang der staatlichen Unterstützung entbehren mußten und allein auf private Fürsorge angewiesen waren.
Die vor allem in der Zeitschrift„Revue philanthropique‘“ geführte Diskussion um Unterricht und Erziehung behinderter Kinder sowie die Aktivitäten einzelner Persönlichkeiten wie Bourneville! sowie Binet und Simon blieben nicht ganz erfolglos; im Jahre 1909 erließ die französische Nationalversammlung ein Gesetz über die Einrichtung von Hilfsklassen bzw.-schulen(classes et&coles de perfectionnement). Damit war ein erster Anfang gemacht, der allerdings nur sehr zögernd zu durchgreifenden Veränderungen führte. Noch 1913 führte der Direktor einer Irrenanstalt in der Zeitschrift„La France medicale‘“ Klage darüber, wie sehr das Ausland dem„„Mut
! Bourneville, geb. 1840, seit 1875 Pariser Abgeordneter und Angehöriger der politischen Opposition, wurde 1879 Leiter der Anstalt von Bicetre. Beeinflußt durch die Ideen und Methoden Seguins, widmete er sich frühzeitig der Erziehung geistig behinder Kinder. Er formulierte und praktizierte die sogenannten methodes medico-pedagogiques; einer seiner Gäste, der sein medizinisch-pädagogisches Konzept vor Ort studierte, war Maria Montessori(vgl. auch Pelicier und Thuillier, 1979).
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Beschulung zurückgebliebener Kinder in Frankreich
terland‘‘ der Erziehung anomaler und schwachsinniger Kinder davon geeilt sei (Wahl 1913).
Welche Motive, gesellschaftlichen Interessen hatten zu der Installierung von Sonderklassen geführt? Nicht anders als in Deutschland sind auch in der französischen Diskussion zwei Hauptmotive für die Forderung nach besonderen Klassen für Geistesschwache erkennbar: ein humanitär-pädagogisches und ein Ssozialutilitaristisches. Bedingt durch die Einführung und verstärkte Durchsetzung der Schulpflicht— man denke an die Auswirkungen der preußischen Allgemeinen Bestimmungen von 1872 auf die deutsche Hilfsschulentwicklung— werden sich Pädagogen, Mediziner, politisch Verantwortliche u.a. zunehmend der Benachteiligung bewußt, die behinderten Kindern im staatlichen Schulwesen widerfährt. So weist Paul Strauss in einem Bericht für den dritten Kongreß privater Fürsorge von 1903 nach, daß aktuell.nur etwa eintausend Blinde eine ausreichende Bildung erfahren, hingegen über viertausend überhaupt nicht unterrichtet werden. Von den etwa 4000 Tauben befinden sich ca. dreitausend außerhalb der Schule. Noch desolater ist die Situation der Geistesschwachen, da ihre Unterweisung nicht einmal im Schulpflichtgesetz vorgesehen ist. Gefordert wird für die schwerer Behinderten unter ihnen eine pädagogische Betreuung in den bestehenden Anstalten und— entsprechend dem Vorbild anderer europäischer Länder, vor allem Deutschlands— für die Schwachbegabten und Zurückgebliebenen die Einrichtung von besonderen Klassen, die als selbständige Einheiten oder als Teil der Grundschule zu konzipieren sind.
Das Schulschicksal jener Unglücklichen, die ständig hinter den Klassenkameraden zurückbleiben, wird von verschiedenen Autoren in eindringlicher Weise geschildert. Danach erscheint es pädagogisch folgerichtig und vernünftig, jene gesondert zu unterrichten, die stets die letzten in der Regelklasse sind, und es ist
zugleich humanitär, sich ihrer helfend_
anzunehmen, da sie ein unverschuldetes Schicksal tragen. Unter Hinweis auf die Einführung der allgemeinen Schulpflicht
von 1882 und der damit verbundenen Überfüllung zahlreicher Schulklassen wird hervorgehoben, daß ein besonderes Eingehen auf die Zurückgebliebenen zugleich eine Vernachlässigung der übrigen Schüler bedeuten würde(vgl. ManheimerGommes 1901, S. 558). Binet und Simon haben in ihrem 1907 erschienenen Buch „Les enfants anormaux“* sehr nüchtern die Lage der Schulversager beschrieben: „Sie ziehen. keinen großen Nutzen aus dem Schulunterricht, und das ist genau das, was die Lehrer beklagen, mit sehr viel Energie. Diese Kinder, sagen die letzteren, ähneln überhaupt nicht der großen Masse der Schüler. Ein großer Teil von ihnen ist mit geistiger Schwachheit behaftet; ohne vollkommen unintelligent zu sein, sind sie doch nicht begabt genug, um Gewinn aus der gemeinsamen Arbeit mit den Normalen zu ziehen; sie verstehen nicht, sie können nicht folgen; sie profitieren so wenig von dem Schulbesuch, daß einige von ihnen sich nicht einmal den Stoff der Elementarklasse aneignen können. Oft haben sie keinerlei Interesse am Unterrichtsgeschehen, und das ist noch der glücklichere Fall, denn nun vergißt man sie in der Ecke, und der Unterricht läuft so ab, als ob sie nicht anwesend wären (1907, S. 8).?
Das humanitär-pädagogische Motiv für die Forderung nach besonderen Hilfsklassen bzw.-schulen ist in der Regel aufs engste verknüpft mit jenem des gesellschaftlichen Interesses, wobei die Bedeutung des jeweiligen Aspekts durchaus variiert. Charakteristisch für die auch die deutsche Hilfsschulpädagogik prägende zweifache Legitimation ist die Aussage eines Schülers des Mediziners Bourneville, die da lautet:„Wenn die Gesellschaft das Recht hat, sich gegenüber den Gefährlichen zu verteidigen, so hat sie die Pflicht, die Schwachen zu beschützen“ (Royer 1970, S. 5). Und Paul Dubois, der im Auftrage des musee social? eine In
? Die Übersetzungen aus dem Französischen
stammen von der Verfasserin.
? Laut Grand Larousse von 1963 handelt es sich bei dem musee social um eine soziale Organisation, die 1894 vom Herzog de Chambrun gegründet wurde. Sie veröffentlichte Untersuchungen zur Sozialökono
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990