formationsreise nach Belgien und Norddeutschland unternahm und einen ausführlichen Bericht über das belgische und
deutsche Hilfsschulwesen vorlegte, schreibt am Ende seiner Schlußfolgerungen:
„Nun, bis in die Gegenwart haben jene unglücklichen Kinder, deren Situation wir gerade untersucht haben, von der Gesellschaft weniger empfangen als ihre begabteren Kameraden. Die elementare Gerechtigkeit gebietet es, daß dieses anders sei und das man, so gut wie möglich, die durch die Natur bedingte Ungleichheit aufhebt. Wir glauben durch das Beispiel unserer benachbarten Länder gezeigt zu haben, daß sich das soziale Interesse mit dem der sozialen Pflicht verbindet“(1906, S. 84).
Die von Binet und Simon in ihrer Schrift einleitend formulierten Bemerkungen, daß die Grundhaltung der uneigennützigen Philanthropie etwas überholt sei und unbedingt um die Diskussion der sozialen Frage im Sinne des Gesamtinteresses einer Gesellschaft zu erweitern sei(vgl. Binet und Simon 1907, S. 1 ff.), kehren in ähnlichen Formulierungen bei zahlreichen französischen Autoren wieder. Besondere Bildungsmaßnahmen für Behinderte und Schulversager werden demnach propagiert— und hier sind die Argumente bereits aus der Diskussion in Deutschland bekannt— weil es letztlich für die Gesellschaft ökonomischer ist, wenn auch dieser Personenkreis gesellschaftlich nützlich wird. So kommentiert Dubois die statistische Aufstellung deutscher Kommunen für die sehr viel höheren Kosten der Hilfsschulen nicht ohne Bewunderung: ‚,... und man kann sagen, daß die Deutschen jetzt überall die ganze soziale Bedeutung dieser Reform des Primarschulwesens begriffen haben“ (a.a.O., S. 53). Ebenfalls auf Deutschland gemünzt und nahezu gleichlautend ist die Bemerkung der Medizinerin Pascal aus dem Jahre 1913:„Seit dreißig Jahren hat sich Deutschland der Idee der sozialen Prävention gewidmet. Man hat dort verstanden, daß eine möglichst hohe Zahl von unterrichteten Kindern in Sonderschulen dazu beiträgt, die Zahl
mie, organisierte Konferenzen und unter. stützte soziologische Studien.
Sieglind Ellger-Rüttgardt
der Erziehungsanstalten zu verringern“ (S. 265 f.).
Die Forderung nach der Etablierung von Sonderklassen für Zurückgebliebene und Schwachbegabte wird auch in Frankreich damit begründet, daß es sich bei diesem Personenkreis um eine relativ große Population handelt, die ohne entsprechende Ausbildung und Erziehung eine’soziale Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Der Hinweis auf drohenden„„‚moralischen Verfall‘‘ und„soziale Untüchtigkeit‘(Decheance morale, incapacite sociale, Strauss 1903, S. 190), auf soziale Wertlosigkeit, Vagabundentum und Kriminalität(Jacquin 1905, S.318) bei Vernachlässigung besonderer pädagogischer Maßnahmen für Zurückgebliebene, ist zwar ein weitverbreitetes und oft wiederkehrendes Argument, es tritt in der Regel aber niemals isoliert auf, sondern stets in Verbindung mit dem der gesellschaftlichen und humanitären Verpflichtung gegenüber den schwächeren Gliedern der Gesellschaft.
Es darf angenommen werden, daß das Erbe der französischen Revolution, aufgrund dessen jedem Bürger, auch dem Behinderten und weniger Leistungsfähigen, dieselben Menschenrechte zukommen, in der Debatte um die Beschulung behinderter und vernachlässigter Kinder in Frankreich eine ungleich größere Rolle spielte als etwa in dem kaiserlichen Deutschland, wo von konservativen und zum Teil reaktionären Hilfsschulvertretern eine teilweise einseitig utilitaristische Begründung der Hilfsschulbewegung formuliert wurde(vgl. Ellger-Rüttgardt 1980). So läßt sich etwa nachweisen, daß französische Professionelle eindeutig Stellung bezogen gegenüber Ideologien, die in den sozial Schwachen ein zu eliminierendes gesellschaftliches Element erblickten. Der ehemalige Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik von Lyon bemerkt am Ende eines Aufsatzes: „Lassen wir jene Utilitaristen beiseite, die nach den Methoden Spartas rufen und die eine legale Unterdrückung all jener fordern, die unschuldig geboren werden und die auf die Unterstützung durch die allgemeine Wohlfahrt angewiesen sind. Aber wir, die wir normal und menschlich sind, sollten uns mit
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990
Beschulung zurückgebliebener Kinder in Frankreich
Prof. Malapert daran erinnern, daß es eine Pflicht ist— und nicht nur aus Mitleid, sondern aus Solidarität und sozialer Gerechtigkeit— diesen Unglücklichen die Hand entgegenzustrecken, die unschuldige Opfer einer krankhaften Vererbung sind und die durch rechtzeitiges Einschreiten fast alle gerettet werden können“(Jacquin 1905, S. 325). Ein Schüler Bournevilles, der Mediziner Royer, wendet sich mit Entschiedenheit gegen die Bevölkerungstheorie eines George Malthus, die von einem französischen Vertreter auf dem Kongreß für Familienwohlfahrt von 1901 vertreten wurde und fragt unmißverständlich:„Wo würde man aufhalten, wenn man all jene verschwinden ließe, die nutzlos und kostspielig sind und die eine belastete Nachkommenschaft hervorbringen könnten?“ Mahnend erinnert er an die Worte seines Lehrers Bourneville:„Alles, was wir auf dem Feld der Wohlfahrt getan oder versucht haben, ist beeinflußt gewesen von den Ideen der französischen Revolution im Hinblick auf die Organisation der Wohlfahrt: allen Unglücklichen beistehen und helfen, sie unterstützen— die Alten, die Kranken, die Schwachen an Körper und Geist, die Waisen, die Bürger ohne Arbeit. Diese Aufgabe mit einem Höchstmaß an Humanität zu erfüllen, das ist die Pflicht der Republik. Bleiben wir der Natur treu, seien wir menschlich“(a.a.O., S. 96).
Charakterisierung der Schülerschaft und Fragen der Schulorganisation
Im Jahre 1899 legte Heinrich Kielhorn einen Organisationsplan für die Hilfsschule vor, der Aussagen zur Definition des Hilfsschulkindes enthielt, die die offizielle Hilfsschulpädagogik und-politik über Jahrzehnte bestimmten sollten. Danach wurden die Schüler des neuen Schultyps Hilfsschule als intellektuell Kranke charakterisiert, deren Zustand zwar durch Unterricht und Erziehung zu mildern, aber nicht wesentlich zu verändern sei:„Wir haben es mit Kindern zu tun, die an angeborener oder im frühen
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