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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Sieglind Ellger-Rüttgardt ­

Lebensalter erworbener geistiger Schwä­che leiden, einer Schwäche, welche wir nicht aufzuheben vermögen, die wir nur durch lange, dauernde, planvolle päd­agogische Einwirkung mildern können. Wir können diese Kinder niemals dahin bringen, daß sie normalen Kindern gleich werden nicht im 10., nicht im 12., auch nicht im 15. Lebensjahre.(Wunder zu verrichten, dazu sind wir nicht ausge­rüstet!) Wer mehr verspricht, verspricht zu viel(Bericht 2. Verbandstag 1899, S. 33).;

Die uns vorliegenden französischen Quel­len lassen vermuten, daß für die Beschrei­bung der Kinder der zu gründenden Hilfs­klassen und-schulen kein einseitig stati­scher medizinischer Schwachsinnsbegriff verwandt wurde. Zwar ist auch in Frank­reich von kranken, pathologischen Schü­lern die Rede(vgl. etwa Dubois 1906, S.3; Jacquin 1905, S. 309), aber mit zwei entscheidenden Unterschieden: Anders als die offizielle deutsche Hilfsschulpäd­agogik konzidieren die französischen Mediziner durchaus die Bedeutung so­zialer Faktoren bei der Entstehung von Schulversagen und intellektuellem Rück­stand, dem wiederum folgerichtig ein zu­gleich optimistisches und pragmatisches, auf Veränderung angelegtes pädagogisch­medizinisches Konzept entspricht. Wäh­rend die maßgeblichen deutschen Hilfs­schulvertreter einen ursächlichen Einfluß sozialer Gründe auf die Entstehung von Hilfsschulbedürftigkeit rundherum in Abrede stellten(vgl. Ellger-Rüttgardt 1980, S. 173 ff.), war die Bedeutung des sozialen Milieus in der französischen De­batte weder zweifelhaft noch umstritten. So schreibt etwa Paul Dubois auf den ersten Seiten seines Auslandsberichts: Aber die Tatsache, daß es so viele de­generierte und beeinträchtigte Wesen gibt, ist keineswegs allein auf biologische Ursachen zurückzuführen... Der Schul­arzt von Anvers, Ley* gibt das Milieu als einen Hauptfaktor bei der Entstehung der beobachteten Degenerationen an: die Mehrheit der Schüler gehört sehr ar­

* In Belgien hatte Paul Dubois u.a. die Hilfs­schule von Anvers besucht. Vgl. Ley: LArrieration mentale, contribution ä lEtude de la pathologie infantile. Bruxelles, Lebegue 1904.

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Beschulung zurückgebliebener Kinder in Frankreich

men Familien an, in denen Ernährung, allgemeine Hygiene und Moral fast im­mer beklagenswert sind. Aber ist die Ent­wicklung dieser Übel nicht zu einem großen Teil auf soziale Ursachen zurück­zuführen: Zusammenpferchung von Ar­beitermassen in ungesunden Städten, Wohnungen ohne Licht und Luft, der Drang, in einer Art von Betäubung Ver­gessen zu finden von einer beklagens­werten Existenz und einem trostlosen Heim?(a.a.O., S. 6 f.).

Konsens besteht somit in der pragmati­schen Festlegung, daß es sich bei den anomalen Kindern um solche handelt, die aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Nutzen aus dem Unterricht der allgemeinen Schule ziehen können, die der besonderen pädagogischen Fürsorge in speziellen Klassen bedürfen, wobei je nach Einzelfall sowohl eine Rückschu­lung in die Volksschule als auch eine Überweisung in ein Internat vorstellbar ist(vgl. Jacquin 1905, Audemard 1911). Die vorherrschende schulorganisatorisch­pragmatische Definition, die ausdrück­lich die Heterogenität der Schülerschaft hervorhebt, findet sich auch in dem ein­flußreichen Buch von Binet und Simon, wo es heißt:Aus alle diesem(der Be­schreibung der Schülerschaft, S. E.R.) folgt sowohl eine sehr klare Definition der Anomalen als auch ein sehr einfacher Hinweis darauf, was man ihnen schuldet. Die anomalen und zurückgebliebenen Kinder sind jene, die weder die allge­meine Schule noch die Anstalt haben will; die Schule findet sie zu wenig nor­mal, die Anstalt betrachtet sie als nicht krank genug. Man muß für sie den Ver­such von Sonderschulen und-klassen machen(a.a.O., S. 10).

Der geringen ätiologischen Festlegung entsprach konsequenterweise die Über­zeugung von der positiven Beeinflußbar­keit und Erziehung jener so verschieden­artigen Gruppe von Schulversagern und Zurückgebliebenen. Unter Berufung auf die erzieherischen Erfolge Bournevilles mit geistig Behinderten in der Anstalt Bicetre, bemerkt der Mediziner Jacquin: Um wieviel größer müssen die Erfolge der medizinisch-pädagogischen Behand­lung bei den nur Zurückgebliebenen, den leicht Debilen sein, wenn Bourneville

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damit und seine veröffentlichten Be­obachtungen belegen dies schon bei den tief geistig stehenden Kindern wah­re Wunder vollbringen konnte?(1905, S.316). Die sich in der Auseinanderset­zung um die französischen Hilfsklassen zu Wort meldenden Mediziner und anders als in Deutschland sind es Medi­ziner und nicht Pädagogen, die die Dis­kussion beherrschen favorisieren in der Nachfolge S&guins und Bournevilles ein medizinisch-pädagogisches Förder­konzept, das grundsätzlich von der Ver­änderbarkeit auch des geistigen Zustan­des eines Menschen ausgeht. Dem pessi­mistischen Bild der Unveränderbarkeit intellektueller Fähigkeiten wird entge­gengehalten, daß durch methodische Übung der physischen Fähigkeiten eine positive Beeinflussung des Gehirns mög­lich ist(Audemard 1911). Charakteri­stisch für die französische Diskussion ist, daß die Frage der spezifischen Me­thode eines Spezialunterrichts für Zu­rückgebliebene eine ungleich wichtigere Rolle als in Deutschland spielte, wo sich abgesehen von den neuen Ele­menten des Anschauungs- und Handfer­tigkeitsunterrichts die Hilfsschulpäd­agogik durch ihre enge Anlehnung an die Volksschule in eher traditionellen Bahnen bewegte. So verwundert es nicht, daß etwa der Mediziner Dupuy in einem Aufsatz über selbständige Hilfs­schulen als maßgebliche Methoden des Hilfsschulunterrichts neben die Konzep­tionen von Itard, S&guin und Bourneville jene eines Fröbel und Pestalozzi stellte (1912/1913, S. 274).

Wie bereits angedeutet wurde, spielte die Frage der Organisationsform eines besonderen Unterrichts in Frankreich nur eine untergeordnete Rolle und wur­de ähnlich pragmatisch diskutiert, wie die der Definition der Schülerklientel. Während in Deutschland die Hilfsschul­repräsentanten schon sehr frühzeitig für eine selbständige, voll ausgebaute und von der Volksschule losgelöste Sonder­schulform eintraten, plädierten die fran­zösischen Verfechter eines Sonderunter­richts sowohl für einzelne Klassen als auch für autonome Schulen, wobei der Gedanke einer engen Anbindung an die allgemeine Schule allerdings sehr viel

FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990