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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Sieglind Ellger-Rüttgardt ­

Beschulung zurückgebliebener Kinder in Frankreich

stärker lebendig war als in Deutschland. So fordern etwa die Besucher des 3. na­tionalen Kongresses für öffentliche Wohl­fahrt und Fürsorge in Bordeaux, daß in allen großen Städten Hilfsklassen einzu­richten seien, die entweder als selbstän­dige oder angegliederte Klassen der Pri­marschule zu gestalten sind(vgl. Strauss 1903, S.197). Vor dem Erfahrungshin­tergrund seiner Informationsreise nach Belgien und Deutschland bewertet Du­bois die vor allem deutsche Entwicklung der Hilfsklasse zur ausgebauten Hilfs­schule als eine geradezu natürliche und logische, die durchaus zu begrüßen sei, da sie den betreffenden Schülern einen fortschreitenden Bildungsgang gewähre. Er legt aber Wert darauf zu betonen, daß diese Sonderklassen oder Sonderschulab­teilungen nach außen hin nicht als et­was Besonderes in Erscheinung treten sollten:Welches auch das gewählte System sein sollte und dies ist eine Bemerkung, die von Bedeutung ist, es ist wichtig, die Klasse oder Schule nicht mit einem Namen zu belegen, der ihren besonderen Charakter hervorhebt, und es ist ferner notwendig, daß der Sonder­unterricht in den Verwaltungsrahmen der allgemeinen Schulverwaltung gut einge­bunden sei(a.a.O., S. 43).

Mit zunehmendem Fortgang der Diskus­sion und vor allem nach einigen Jahren der praktischen Erfahrung mit den ersten classes de perfectionnement, mehr­tren sich die Stimmen, die nach dem Vorbild Deutschlands die Schaffung selbständiger Hilfsschulen mit aufsteigen­den Klassen forderten. So legte Dr. Du­puy im Jahre 1912 dem Präfekten des Departement Seine einen Bericht vor, in dem er gemäß Gesetzestext von 1909 auch autonome Hilfsschulen mit ange­schlossenem Internat forderte:So, wie diese Klassen funktionieren, sind sie un­zureichend, und ich wüßte meine Ge­danken nicht besser auszudrücken, als die Worte des Herrn B. zu wiederholen, der auf diesem Gebiet bedeutend und unparteiisch ist: Die Hilfsklassen mit dem System des Externats sind nur ein ‚täuschendes und teures Linderungsmit­tel(a.a.O., S. 270). Nur ein Jahr frü­her hatte der Inspektor der Hilfsklasse von Lyon einen im Tenor gleichlauten­

den Bericht dem 12. Medizinischen Kon­greß in Lyon vorgelegt:Am Ende des Schuljahres 1908/1909 versuchten wir die wohlwollende Aufmerksamkeit des Bürgermeisters von Lyon auf die Not­wendigkeit zu lenken, eine selbständige Schule für Anomale zu schaffen(Ecole autonome pour anormaux). Man findet dieselbe Meinung formuliert in den Be­richten der Hilfsklassenlehrer von Bor­deaux und Lyon... Alle Autoren sind sich einig: Nur ein Internat kann eine geeignete Erziehung der anomalen Kin­der sicherstellen und eine Besserung ihrer Anomalien erreichen. In Deutsch­land konnten 83 von 100 Anomalen, die die Hilfsschulen® verlassen haben, ein selbständiges Leben führen(Audemard 1911, S. 489). Weder die Forderung nach Hilfsklassen noch die nach Hilfsschulen wurde in Frankreich in nennenswerter Weise er­füllt. Es sollten noch Jahrzehnte verge­hen, bis in den 50er und 60er Jahren so etwas wie dieBlüte eines französischen Hilfsschulwesens entstand nicht zu­letzt bewirkt durch die Periode der deut­schen Besatzung, in die eine nennenswer­te Zunahme von Hilfsschulgründungen fällt(vgl. Chauviere 1980; Cresas 1984, S.211). Im Jahre 1909 gab es in ganz Frankreich lediglich vierzehn Hilfsklas­sen, davon fünf in Paris, und 1936 zähl­te die französische Hauptstadt nicht mehr als 23 Sonderklassen(vgl. Hugon u.a. 1984).° Die Gründe für dieses Phä­nomen sollen uns abschließend etwas näher beschäftigen.

5 Das WortHilfsschulen findet sich im französischen Text auf deutsch und ge­sperrt gedruckt. Interessant ist im übrigen, daß die deutschen Hilfsschulen, die in der Regel keine Internate waren, in der Be­gründung für die Forderung nach Interna­ten benannt werden.

Etwas andere Zahlen finden sich bei Peli­cier/Thullier. Sie verzeichnen für 1912 für Paris 30 Klassen mit 720 Schülern und für ganz Frankreich 48 Klassen mit insge­samt 1000 Kindern; nach Berechnungen dieser Autoren liegt die Anzahl der Sonder­klassen in Frankreich zwischen 1919 und 1930 bei etwa 2000(a. a. O., vgl. S. 128 f.).

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

Ausblick auf die französische Hilfsschulentwicklung

Versucht man zu verstehen, warum sich in Frankreich schulische Einrichtungen für Schwachbegabte und Schulversager sehr viel später und zudem vorrangig nur in Form von Klassen bzw. Abteilungen, nicht jedoch als selbständige Schulen, entwickelten, so lassen sich mit Sicher­heit mehrere Faktoren benennen, über deren jeweilige Gewichtung und Ver­knüpfung allerdings keine definitiven Aussagen getroffen werden können:

Zunächst ist als unterscheidendes Strukturelement zu beachten, daß die allgemeine Schulpflicht in Frankreich über 100 Jahre später als in Deutsch­land eingeführt wurde. Daraus folgt, daß das Problem des Schulversagens im französischen Schulsystem später manifest wurde als in vergleichbaren deutschen Bildungsinstitutionen.

Unterschiedlich sind auch die allge­meinen politischen Rahmenbedingun­gen für die Herausbildung eines Bil­dungswesens für schulschwache Schü­ler. Das deutsche Hilfsschulwesen entwickelte sich im wilhelminischen Kaiserreich und erfuhr generell eine Förderung seitens des Staates. Vor al­lem der preußische Staat förderte die Hilfsschule, da sie unter bildungs­und sozialpolitischen sowie ökonomi­schen- Aspekten Funktionen über­nahm, die sich mit den damaligen Herrschaftsinteressen deckten. Quali­fizierung von weniger leistungsfähi­gen Schülern, aber auch Loyalitäts­sicherung und Disziplinierung im Rah­men der Auseinandersetzung um die soziale Frage waren entscheidende Interessen des Obrigkeitsstaates bei der Förderung der Hilfsschule. Die Diskussion in Frankreich um beson­dere schulische Einrichtungen für Schwachbegabte und Zurückgeblie­bene vollzog sich hingegen zur Zeit der 3. französischen Republik(seit 1875) und vor dem Hintergrund des Erbes der großen französischen Revo­lution. Das französische Schulsystem der damaligen Zeit spielgelte zwar die nach wie vor existierende Klassenge­

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