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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Sieglind Ellger-Rüttgardt ­

sellschaft wider(vgl. Prost 1968), aber vor allem das öffentliche Schul­wesen im Unterschied zum priva­ten Sektor war geprägt von einem republikanischen, laizistischen und nach der Niederlage von 1870/71 einem nationalistischen Geist.

In diesem System waren vor allem die Lehrer die ideellen Repräsentan­ten einer demokratischen Republik. Wenn man zur Kenntnis nimmt, daß nicht Pädagogen, sondern Mediziner die treibende Kraft bei der Propagie­rung von Hilfsklassen waren, wenn berichtet wird, daß Lehrer anläßlich der Erhebung von Statistiken stolz berichteten, sie hätten keine anoma­len Kinder(Audemard 1911, S. 485) bzw. nur einen geringen Prozentsatz von etwa einem Prozent, während Experten wie Binet und Simon de­ren Anteil auf 5% schätzten(vgl. Bi­net/Simon 1907, S. 11 f.), kann ver­mutet werden, daß die uninteressierte bis ablehnende Haltung vieler Lehrer gegenüber einem Hilfsschulsystem entscheidend von politischen Über­zeugungen beeinflußt war. Angesichts des demokratischen Bewußtseins fran­zösischer Lehrer darf angenommen werden, daß bei ihnen eine geringere Neigung bestand, schulschwache Kin­der aus der allgemeinen Schule auszu­gliedern. Die Tatsache, daß diese Kin­der zum größten Teil aus den ärme­ren Volksschichten stammten(vgl. Hugon u.a. 1984), wurde von vielen Pädagogen sicherlich als soziales Un­recht betrachtet, an dessen Perpetu­ierung sie nicht beteiligt sein wollten. Für die Verankerung in demokratisch­republikanischen Traditionen spricht auch, daß sich etwa Paul Dubois in seinem Bericht über das deutsche Hilfsschulsystem kritisch über die zwangsweise Überweisung der Kinder in die Hilfsschule äußerte, die er mit folgender Bemerkung kommentierte: Es dürfte in unserem Land außer Frage stehen, den Willen der Eltern so gering zu achten(a.a.O., S. 48). Hinzu kamen auf der Seite der Pädagogen auch handfeste Statusin­teressen. Die Tatsache, daß die Medi­ziner Anspruch auf die Leitung von

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Beschulung zurückgebliebener Kinder in Frankreich

Internaten für Schwachbegabte erho­ben und auch bei der Arbeit in den Hilfsklassen ein Wort mitreden woll­ten(Dubois 1912/13, S. 275; Pelicier/ Thullier 1979, S. 117) führte zu einem offenen Konflikt mit den Professio­nellen aus dem Bereich der Pädagogik und war langfristig sicherlich bedeut­sam für die nur zögerliche Weiterent­wicklung des Hilfsschulwesens in Frankreich. Anders als in Deutschland gab es in Frankreich keine organi­sierte Lehrergruppe, die vergleich­bar dem Verband der Hilfsschulen Deutschlands als wichtige Interes­senvertretung die Ausweitung des Hilfsschulwesens hätte vorantreiben können.

Weitere Ursachen für die fehlende quantitative Ausweitung der Hilfsklas­sen sind auf finanzielle und verwal­tungsorganisatorische Faktoren zu­rückzuführen. Nach dem Gesetz von 1909' war es den Kommunen freige­stellt, Hilfsklassen oder-schulen ein­zurichten, was zur Folge hatte, daß nur wenige Städte überhaupt bereit waren, besondere finanzielle Anstren­gungen zu unternehmen. Hinzu kommt die durch die zentralistische Verfassung Frankreichs bedingte schwerfällige Verwaltungsstruktur, die alle Bestrebungen auf lokaler Ebene erschwerte. Schließlich erwies sich auch eine fehlende Spezialausbil­dung für Hilfsklassenlehrer als hin­derlich für die Etablierung eines neuen Schultyps.

Als letzter, aber keineswegs unbedeu­tender Faktor ist der Umstand zu werten, daß aus französischer Sicht die Einrichtung von Hilfsklassen oder -schulen als keineswegs pädagogisch zwingend angesehen wurde. In ihrer Schrift über anomale Kinder hatten Binet und Simon rundweg die Behaup­tung bestritten, daß zurückgebliebene Kinder nur in besonderen Klassen an­

Nach Pelicier/Thullier(1979, S. 129, Anm. 184) organisierten sich die französischen Hilfsschullehrer offenbar erst im Jahre 1927. Seit diesem Zeitpunkt veröffentlich­ten sie eine Zeitschrift mit dem Titel Notre bulletin.

gemessen gefördert werden könnten. Obgleich sie von den Vorzügen dieser Klassen überzeugt waren, betrachte­ten sie diese doch nur als Modellein­richtungen mit Versuchscharakter, deren Wert, Existenzberechtigung und Rentabilität sich in der Zukunft erst noch erweisen müsse.

Alle Versuche, die Hilfsklasse als un­entbehrliche Einrichtung für Schwach­begabte zu propagieren, ohne die die Zöglinge der Kriminalität und der Bettelei anheim fallen würden, cha­rakterisierten Binet und Simon als interessengeleitete Behauptungen, die angesichts einer empirischen Über­prüfung der Lernleistungen und Be­rufserfolge von Schwachbefähigten in allgemeinen Schulen und Hilfsklassen nicht aufrecht zu erhalten seien(vgl. a.a.0., 5: 205 ff.).

Obgleich das deutsche Hilfsschulwesen immer wieder als Vorbild geschildert wurde, gab es durchaus auch Kritik an dem deutschen Modell. Abgesehen von dem bereits erwähnten Zwangscharakter dieser neuen schulischen Institution wa­ren es zwei Punkte, die Dubois in seinem gründlichen Bericht über das deutsche Hilfsschulsystem hervorhob: Zum einen wurde bemängelt, daß durch die enge Anlehnung an die Volksschule die deut­sche Hilfsschule wenig originelle Metho­den entwickelt habe, wie sie etwa durch die methode m&dico-pedagogique an bel­gischen Einrichtungen repräsentiert wa­ren. Der zweite Einwand bezog sich auf die Ablehnung der deutschen Hilfsschul­lehrer, den Schülern bereits in der Hilfs­schule eine berufliche Ausbildung zu ver­mitteln. So waren es bei aller Bewun­derung für die Hilfsschule in Deutsch­land doch auch unterschiedliche päd­agogische Konzeptionen, die Zweifel auf­kommen ließen, ob diese neue Institu­tion wirklich auch eine neue Pädagogik verwirklichen würde, Diese nie ganz ver­stummende Skepsis, gepaart mit den vor­her benannten Bedingungen, verhinderte letztlich, daß sich eine Hilfsschule als selbständige Sonderschulform in Frank­reich durchsetzen konnte.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990