Stabilität und Wandel
in der Geschichte des Behindertenwesens
Von Emil E. Kobi
Der Autor untersucht die Geschichte der Heilpädagogik mit Hilfe von vier soziologischen Begriffen: Stabilität, Dispersion, Konsolidierung, Anomie und zeigt die paradoxe<gesellschaftliche Forderung nach einem ‚‚nichtbehinderten Behinderten‘ und einem„behinderten Nichtbehinderten‘“‘ auf.
The author looks at the history of special education with the help of four sociological terms: stability, dispersion, anomy, consolidation and demonstrates the paradoxical social demand for a“nonhandicapped handicapped” and for a“handicapped nonhandicapped”,
Phasen unterschiedlicher Konsistenz
Die Behindertenfürsorge ist, wie jedes gesellschaftspolitische System, inhaltlich wie strukturell dem historischen Wandel unterworfen, Dieser erfolgt nicht völlig regellos, sondern zeigt wiederkehrende Phasen unterschiedlicher Konsistenz und Mobilität, die ich mit folgenden Etiketten versehen will.
Stabilität
Stabilität bezeichnet Zustände, Ordnungssysteme, Attitüden etc., die praktisch unverändert ganze Epochen überdauern können. Statische Phasen sind durch folgende Punkte gekennzeichnet:
— Was eine Behinderung ist bzw. als eine solche gilt, ist allgemein klar und nicht Gegenstand weitläufiger Reflexionen und Diskussionen
— Behinderungen werden, holzschnittartig, auch untereinander klar abgegrenzt und bezeichnet
— Weite Bereiche des Behindertenwesens bleiben freilich auch unthematisiert, treten nicht ins öffentliche Be
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„In der Ordnung des Lebens ist nichts gut, was maßlos ist‘‘(Durkheim, 1973, p. 242).
wußtsein oder werden absichtlich tabuisiert und bleiben dadurch gesichtslos-uninteressant
Behinderung erscheint als eine Seinsweise und wird als solche nicht oder nur vage abgehoben von der Person des Behinderten. Der Behinderte„ist“ gewissermaßen seine Behinderung Behinderte haben einen bestimmten, in aller Regel peripheren Status und erhalten meist auch eine eindeutige Rolle zugewiesen
Desgleichen sind die Lebensräume ausgegrenzt, in denen sich Behinderte aufzuhalten haben; das Separationsprinzip legt die Lebensordnung fest Das Behindertenwesen ist institutionalisiert in Gesetz und Common sense und wird ansichtig in architektonischen Verweisungen in die ‚Totale Institution“(Goffman, 1974) vom Typ Asyl, Anstalt, Gefängnis, Spital etc.
Die Umgangsweisen mit Behinderten sind kanonisiert in Vorschriften(z.B. was das Almosengeben anbetrifft), die ihrerseits in einen Moralkodex eingebunden sind
Behindertsein gilt als Schicksal, das im wesentlichen zu ertragen und nur in Grenzen zu mildern ist
— Zustandsveränderungen(magischer, therapeutischer, sozialer Art) erfolgen allenfalls individuell und punktuell, jedoch nicht in Form grundsätzlicher Rehabilitationsbemühungen.
Dispersion
Dispersion bezeichnet Phasen der Auflösung und Verflüssigung sowie der progressiven Mobilität eines Systems, das dadurch in eine allgemeine Aufbruchstimmung gerät. Phasen der Verflüssigung sind charakterisiert
— durch den Verschleiß bzw. das Obsoletwerden tradierter Begriffe. Worte lösen sich ab vom urpsrünglich bedeuteten Sachverhalt(sie werden beispielsweise zu Schimpfwörtern wie Krüppel, Psychopath, Idiot etc.)
— durch die Ausdifferenzierung globa
ler Störungsbilder(wie z.B. des„einfachen Erbschwachsinns“) in zahlreiche Detailaspekte
— durch eine entsprechende Ausdifferenzierung des Wortschatzes zur Kennzeichnung abweichender Lebensformen und desgleichen des diagnostischen Instrumentariums
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990