Emil E. Kobi
- Stabilität und Wandel in der Geschichte des Behindertenwesens
— durch die Ausdifferenzierung umfassender Institutionen mit ursprünglicher Sammelbeckenfunktion in Unterabteilungen und Spezialeinrichtungen
— durch die Ausdifferenzierung von Methoden und Therapieformen und mithin durch eine Spezialisierung auch in professioneller Hinsicht
— durch die Ausbreitung und Bekanntmachung bislang abgeschlossenen, d.h. nur einem engen Kreis von Eingeweihten zugänglichen Wissens. Dazu gehört ferner die Entschleierung und Verwortung tabuisierter Tatbestände bis hin zu eigentlichen Propagandafeldzugen im Zusammenhang mit bestimmten Krankheitsformen (Epilepsie z.B.)
— Dispersionsprozesse werden zumeist begleitet und z.T. auch erst ermöglicht durch größere materielle Ressourcen. D.h, Finanzmittel haben einen ausgesprochenen Verflüssigungseffekt sowohl auf materielle Güter (Bautätigkeit, Equipments) wie auch auf Dienstleistungen.
Anomie
Anomie bezeichnet nach Durkheim (1973)„den Zustand der gestörten Ordnung“(S.28): dies weniger in einem moralischen, sondern vor allem in einem strukturellen Sinne, Es handelt sich um jenes Übergangsstadium in welchem sich tradierte, möglicherweise aber überfällig gewordene Ordnungen aufgelöst haben, bevor sich andererseits neue, angemessenere Ordnungen Konstituieren konnten. Anomie bezeichnet somit die Extremform bzw. den Endpunkt der Dispersion. Sie ist gekennzeichnet durch Regel- und Gesetzlosigkeit, allenfalls durch das„Durchdrehen‘“ und mithin den Verschleiß eines Systems. Phasen der Anomie sind gekennzeichnet
— durch Begriffsunsicherheit und die Scheu, Behinderungen überhaupt noch als solche zu benennen. Diese werden höchstens noch durch vage, nichtssagende Worte gekennzeichnet, die keinen direkten Bezug mehr zur Behinderung aufweisen(sollen):„Kin
der mit Schwierigkeiten‘; ‚Kinder mit erhöhtem Förderungsbedarf“ u.ä.
— durch die Auflösung tradierter Institutionen und mithin eine Entgrenzung zwischen Institution und Funktion. Überall ist alles möglich; alles ist überall
— durch die Auflösung tradierter Berufsbilder und Tätigkeitsfelder(so z.B. des Arztes und des Lehrers) in zahllose Splitterfertigkeiten und Funktionalismen. Verbunden damit ist ein allgemeiner Kompetenzwirrwarr von Berechtigungen und Befähigungen
— durch exzessive Demokratisierung bzw. den Abbau hierarchischer Verfügungsstrukturen, dahingehend, daß anonym-kollektive Grundwellen der Zustimmung bzw. der Ablehnung richtungsweisend werden, innerhalb derer fachbezogene Argumentationen” bis zur Bedeutungslosigkeit absinken
— durch die Vermarktung von Wissen und Können, Methoden und Instrumenten nach dem Prinzip„anything goes“(Feyerabend, 1977) verbunden mit einem Konsumismus im Selbstbedienungssystem. Alle sollen allezeit alles zur Verfügung haben und sich ihr Lebenselixier nach eigenem Gusto zusammenbrauen,
Zum Zustand der Anomie gehören ferner zahlreiche Paradoxien, die sich aus Versatzstücken der zerbrochenen, allerdings sehr unterschiedlichen und daher inkommensurablen Bezugssysteme und Prinzipien ergeben.
Solche Paradoxien folgen dem von Aiga Seywald(1977) als„„Irrelevanzregel‘“ bezeichneten Motto: ‚Wir tun, als ob nichts wäre!‘“, D.h. der Behindertenstatus wird in einem ersten Schritt per definitionem und comparationem erzeugt, in einem gegenläufigen Schritt durch Relativierung(Alles ist normal! Wir alle sind ja behindert!) wieder aufgehoben, durch spezifische Hilfeleistungen, Veränderungsbestrebungen und Erleichterungsbemühungen dann aber doch wieder bestätigt. Als„behindert“ erscheint in dieser mehrfach gebrochenen Sichtweise eine Person, deren Normalität einer speziellen Deklaration bedarf gemäß der geläufi
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990
gen„Auch-Formel‘: Auch diese Person hat, darf, soll etc.—„Normal“ hingegen ist eine Person, die man nicht als normal zu bezeichnen braucht.
Konsolidierung
Konsolidierung ist gekennzeichnet durch neue Gestaltbildungen, die je nach dem eher restaurativen oder aber renovativen Charakters sind und somit in spiralförmiger Weise zu einer neuen Stabilität führen. Phasen der Konsolidierung sind gekennzeichnet durch folgende Punkte:
— Zuordnung verschiedener Auffälligkeiten zu übergeordneten Zustandsbildern(„Syndromen*‘“) und mithin zu neuen Krankheits- und Behinderungskompositionen
— Dasselbe Phänomen zeigt sich hinsichtlich Verursachungstheorien. Zwar können diesbezüglich verschiedene Vorstellungen vorliegen, die sich jedoch je als geschlossene„Gehäuse“ voneinander abschotten. Dieselbe Auffälligkeit erfährt, je nach Präferenz, eine andere totalisierte Einschachtelung
— Entwicklung fixer Zuordnungsketten von Ursache—Symptom—Therapie gemäß einer linearen Wenn-Dann-Gesetzlichkeit, so daß, quasi in Entsprechung zu den Kausaltheorien, auch divergente„Schul‘“-Meinungen über die richtige Behandlungsweise bestehen, die ihrerseits eine expansive Tendenz — u.U. bis zur Verallgemeinerung des je Partikularen— aufweisen
— Das Behindertenwesen wird einer zu
nehmenden Regelung unterworfen, wobei der Verrechtlichung eine zentrale Bedeutung zufällt
— dazu treten berufsständische,„ge
werkschaftliche‘‘ Bestrebungen, so etwas wie Zuständigkeitsterritorien zwischen den verschiedenen Professionen auszugrenzen
— integrative Bestrebungen, die auf
Meta-Ebenen neue Einheiten bzw. Koalitionen entstehen lassen(z.B. in Form von Selbsthilfegruppen)
— ähnliches zeichnet sich auch in Form
einer Nationalisierung und Internationalisierung ursprünglich u.U. bloß
113