Emil E. Kobi
sippenmäßig und regional registrierter Probleme ab
— Bildung von Pressure-Groups zur Durchsetzung szientifischer, finanzieller, politischer, ideeller, religiöser, staatlicher, wirtschaftlicher, prestigemäßiger etc. Interessen, für welche „Behinderungen“ lediglich noch den „Stoff“ bieten, aus welchen die jeweiligen„Träume“ gesponnen werden
— dadurch können sich endlich auch konsolidierende Umkehrverhältnisse ergeben, indem sich beispielsweise inflationäre Heilungs- und Heilsbotschafter ihre Klientel propagandistisch aufbauen.
Konsolidierungstendenzen können schließlich, wie vorerwähnt, wieder eine neue Statik zur Folge haben, die sich derzeit in folgender Richtung abzuzeichnen scheint:
— in Richtung auf eine durchgehende Kontrolle und Organisation von Behinderungszuständen, angefangen bei der Prävention, über Frühmaßnahmen bis hin zum Sterbecurriculum. Der Begriff der„Vernetzung“, wie er derzeit in der Psychiatrie favorisiert wird, zeigt m.E. ebenfalls derartige Totalisierungstendenzen an
— in Richtung auf einen Sekuritarismus und totale Versicherung, die jedes Wagnis entbehrlich machen sollen
— in Richtung totalitärer Vermeidungsstrategien, die sich in umfassenden Organisationsformen zur Prophylaxe, Therapie, Förderung und Eingliederung niederschlagen und die als solche kaum mehr in Frage gestellte Rahmenbedingungen abgeben:
— Behinderungen sollen soweit als möglich vermieden werden
— nicht vermeidbare Behinderungen sollten soweit als möglich wegtherapiert werden
— unheilbare Behinderungen sollen so weit als möglich kompensatorisch überbrückt, Restfähigkeiten soweit als möglich gefördert und ausgenutzt werden
— was als Restproblematik bleibt, soll soweit als möglich vom Gesellschaftskörper integriert, normalisiert werden.
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Stabilität und Wandel in der Geschichte des Behindertenwesens
Statische Einigkeit herrscht somit(wieder) bezüglich der Auffassung, daß Behinderung als etwas schlechthinig NichtSein-Sollendes der Entsorgung zuzuführen sei.
Die„Absurdität‘“ der Behinderungszustände
Diese Phasen sind nun freilich nicht scharf und eindeutig voneinander abzugrenzen. Das heißt, in einer konkreten geschichtlichen Situation finden sich stets noch oder bereits stabilisierende Strukturelemente, während in anderen Bereichen Dispersionsprozesse bis hin zu anomischen Verhältnissen und ebenso Konsolidierungserscheinungen zu beobachten sind.
Ferner ist die unterschiedliche Konsistenz bestimmter Strukturen und handlungsbestimmender Einstellungen zu beachten. So gibt es welche, die kulturübergreifender(universaler) Art sind und sich als praktisch intransigent erweisen, neben anderen(zumeist kultur- und gruppenspezifischer Art), die einem häufigeren und rascheren. Wechsel unterworfen sind. Phasenkennzeichnend kann also nur die jeweilige Hauptlinie sein. Betrachten wir nun anhand dieses Modells die Geschichte unseres Fachgebietes der seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts so genannten ‚Heilpädagogik‘, so können wir feststellen, daß diese sich in einer Konsolidierungsphase als ein Konglomerat einer Vielzahl unterschiedlichster Bemühungen um Behinderte herausgebildet hat.
Die heilpädagogische Systematik, wie sie in einer mittlerweile als klassisch geltenden Form bei Hanselmann(1932 ff.) präsentiert wurde, ist ein getreues Abbild der zeitgenössischen heilerzieherischen Praxis, die, einem herkunftsmäßig medizinischen Denkmodell folgend, die äußerlich objektivierbar in Erscheinung tretende Behinderung zum Anlaß nahm, sowohl eine Behinderten-Typologie, wie auch spezifische Methoden, Institutionen und Professionen zu entwickeln. Man könnte diesbezüglich von einer „Kantonisierung‘“ der Behindertenpro
blematik sprechen, da die verschiedenen
Behindertenpädagogiken je ihren Bezugs
punkt und ihre Apologie ausdrücklich im
behinderungsspezifischen Merkmal(der
Blindheit, der Taubheit, der Verkrüppe
lung etc.) fanden.
Bei kreisförmigen Modellen ist es nun
allerdings unmöglich, so etwas wie ei
nen ‚Anfang‘ auszumachen, Und es ist in der Tat ja auch so, daß spezifische Besorgungen für Behinderte weitaus älter sind als die Heilpädagogik und sich letztlich
im Dunkel der Prähistorik verlieren.
Geschichtliche Quellen, die in Fragmen
ten bis in vorchristliche Zeiten zurück
reichen sowie ethnologische Vergleichsstudien unter rezenten Naturvölkern lassen vermuten, daß Abweichungen von einer Kollektivnorm registriert wurden, seit der Mensch sich und sein Dasein zu reflektieren und transzendieren vermochte.
Aus einer ursprünglich nur vagen Wahr
nehmung bestimmter Abweichungen in
der Präsentation und im Verhalten einzelner Individuen konstituierten sich„physiognomisch‘“ eine Reihe archaischer
Standards und Settings bzgl. des Um
gangs mit dem Normabweichenden, de
ren Zahl allerdings beschränkt blieb.
In Anlehnung an Cloerkes/ Neubert
(1987) können die folgenden, in der
gelebten Praxis allerdings meist mitein
ander verbundenen Formen benannt werden:
— Nichtbeachtung, laisser-faire. D.h. die Normabweichung wird zwar registriert, ohne daß hingegen in einer spezifischen Art darauf Bezug genommen wird
— Ausmerzung im Zuge sog. Extremreaktionen(der Tötung oder Aussetzung). Die Abweisung bezieht sich hier also nicht nur auf die Behinderung(als negativ gewertetes Merkmal), sondern auch auf den Merkmalsträger, der in der Folge als Person verfolgt wird
— Negative Qualifikation nicht nur oder nicht in erster Linie der Behinderung sondern der Person des Behinderten, die als sündhaft erachtet wird und via Schuldzuweisung in ihrer Ehre herabgesetzt wird(ein langezeit tradiertes Exempel bildet hierfür das„gefallene Mädchen“)
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990