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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Gesellschaftlich/räumliche Peripherie­rung bis hin zur Isolation der durch eine Behinderung stigmatisierten Per­son, dies zumeist als Folge oder ver­bunden mit einer negativen Qualifi­kation

Eingeschränkte oder modifizierte Par­tizipation(bzgl. Ämtern, Heirat, Ri­tuale etc). Man könnte hier, in Ergän­zung zur horizontal-topologischen Ausgrenzung, von einer vertikal-hie­rarchischen Verweisung sprechen

Privilegierung/Positiver Sonderstatus. Gemeint sind hier die kulturgeschicht­lich allerdings seltenen bzw. spezifi­schen Fälle, wo die als solche negativ qualifizierte Behinderung als ein die Person positiv auszeichnendes Merk­mal erachtet wird. Als jeweils aller­dings rasch verblassendes Paradebei­spiel kann der verstümmelte Kriegs­veteran angeführt werden

Hilfe und Beistand, die generell mate­rieller(Naturalien, Geld), instrumen­teller(Handreichungen) und ideeller (Trost, Fürbitte) Art zu sein pflegen, wobei die Hilfe zur Selbsthilfe be­reits überleitet zu

Behandlung(Therapie) und Beleh­rung. Die erstere richtet sich dabei pri­mär gegen die Behinderung, die zweite wendet sich an die Person und deren entwicklungsmäßige Ressourcen.

Es handelt sich hierbei um Grundmuster, von denen wir im Hinblick auf künftige Entwicklungen annehmen müssen, daß sich kaum wesentliche Änderungen oder Ergänzungen einstellen dürften. D.h. in Phasen der Dispersion verändern sich praktisch nur die Ausgestaltungsweisen, so daß wir es letztlich stets mit Variatio­nen dessen zu tun haben, was universell und zeitlos als negative Abweichung in der Erscheinungs-, Funktions- und Ver­haltensweise eines Menschen gilt. Darüber können m.E, auch die heutzutage um­fänglich geführten, zum Teil an Wortma­gie gemahnenden Integrations-Beschwö­rungen nicht hinwegtäuschen.

DiePerturbationen(Maturana/Varela, 1987), d.h. die Einflüsse, die zurStö­rung und mithin zu Strukturverände­rungen innerhalb einesautopoietischen Systems(a.a.0.), d.h. eines sich immer

Emil E. Kobi ­

wieder neu konstituierenden Systems, führen, sind sehr unterschiedlicher Art, Sie sind jedenfalls nicht nur an objekti­vierbaren, individuellen(Behinderungs-) Merkmalen abzulesen.

Ein Vergleich mit der älteren heilpäd­agogischen Literatur macht deutlich, daß sich bezüglich der Behinderungsfor­men sowohl quantitativ wie auch quali­tativ wesentliche Verschiebungen voll­zogen haben, die man generell als einen Prozeß von naturhaft verursachten, hin zu kulturhaft erzeugten Behinderungs­zuständen charakterisieren kann(Kobi, 1988).

Bedingt sowohl durch einen verbesserten materiellen Lebensstandard wie auch durch medizinische Fortschritte präven­tiver und therapeutischer Art ist der An­teil jener Kinder, deren Behinderung durch Krankheiten und Mangelzustände verursacht ist, erheblich zurückgegangen. Dies betrifft vor allem die Gruppe peri­pher motorisch bzw. perzeptiv Behin­derter, Armut und Krankheit haben (zumindest im Kindesalter und in unse­ren gesellschaftspolitischen Verhältnis­sen) als Behinderungsursache an Ge­wicht verloren.

Wenn wir Behinderung jedoch nicht nur als objektives individuelles Merkmal, sondern als negativ qualifizierten psycho­sozialen Austauschprozeß charakterisie­ren, so müssen wir anerkennen, daß Be­hinderungszustände stets auch gemäß einem Figur-Grund-Effekt durch kon­textuelle(Auf-) Gegebenheiten beein­flußt werden.

Richten wir unser Augenmerk auf der­artige Verschiebungen in den Daseins­gestaltungsformen unserer gesellschaft­lichen Realität, so erscheinen vor allen Dingen die Mobilität und die Vielgestal­tigkeit als epochaltypisch maßgebende Bedingungsfaktoren. Behinderung besteht wesensmäßig in einer topologischen und temporären Einschränkung der Lebens­vollzüge. Diese Einschränkungen werden umso belastender und brisanter, je mehr Mobilität, Flexibilität sowie rasche, si­multane Zustandsbeurteilungen und-an­passungen gefordert sind.

In vergleichsweise statischen, traditiona­listischen und überdies kleinräumig-über­schaubaren Verhältnissen sind die Chan­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

Stabilität und Wandel in der Geschichte des Behindertenwesens

cen, zu einem kontinuierlichen Lebens­rIhythmus und zu so etwas wie einer Ökologischen Nische zu finden, we­sentlich günstiger. Biotische sowohl wie psychosoziale Entwicklungsprozesse be­nötigen für ihren ungestörten Verlauf in erster Linie Zeit, sowie angemessene strukturelle Rahmenbedingungen. Dies gilt vor allem für den homo educandus, der sich in seinen naturhaft und kultur­haft vorgegebenen Verhältnissen über wechselseitige Akkomodations- und Assi­milationsprozesse zu habilitieren, d.h. wohnlich einzurichten hat. Chaotische Vielgeschäftigkeit wie sie E. Bleuler (1921) bereits zu Beginn unseres Jahr­hunderts alsPolypragmasie bezeich­net hatte verursacht demgegenüber derart viele Form- und Stilbrüche in der individuellen Biografie, daß mißglückte Habilitationen zwangsläufig nach u.U. wiederholter und damit erneut verunsi­chernder Rehabilitation verlangen, Die strukturelle und dynamische Gemein­samkeit dessen, was dem Heilpädagogen heutzutage als rehabilitationsbedürftig überantwortet wird, sehe ich generell in gestörten Adaptionsprozessen, die ihrer­seits bedingt sind durch Lernstörungen und Erfahrungsdefizite. External treten diese als Mängel in der gemeinsamen und individuellen Lebensführung, internal als Identitäts- und Sinnkrisen in Erschei­nung. Im Alltagsjargon geläufig gewor­dene Bezeichnungen wiedurchdrehen, rotieren,aushängen undausstei­gen setzen die damit angesprochene Problematik treffend ins Bild: Eine Per­son, diedurchdreht und der esaus­hängt, fällt in der Tat aus der Trans­Mission des Lebenszusammenhanges und vereinzelt sich in einer kontextverlore­nen, sinnentleerten Rotation um sich selbst. Die Funktionalität mag dabei zwar noch erhalten sein d.h., das Ding bewegt, erregt und reagiert zwar noch vermittelt als solche jedoch nichts mehr zwischen dem Einzelnen und einem übergeordneten Ganzen, Auf die Spitze der Paradoxie getrieben, könnte man von einem funktionslosen Funktionieren sprechen,

Weder der Krüppel, noch der Blinde, Taube, der Stumme oder der Idiot reprä­sentieren den epochaltypischen Behin­

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