Probleme leseschwacher Schüler: Lesen(lernen) besteht nicht nur aus dem Entschlüsseln von Wörtern
Von Anke Moch
Im ersten Teil dieses Übersichtsartikels werden empirische Arbeiten vorgestellt und kritisch diskutiert, die zeigen, daß leseschwache Schüler in unterschiedlichen sprachlichen Fähigkeitsbereichen ebenfalls Defizite aufweisen. Im zweiten Teil werden anhand theoretischer Überlegungen und empirischer Befunde die Fragen erörtert, wie die sprachliche Verarbeitung und das Entschlüsseln von Graphemen während des Lesevorgangs koordiniert werden und ob Mängel der sprachlichen Verarbeitung bereits den Erwerb von Entschlüsselungsprozeduren behindern.
In the first part of this review article, empirical research demonstrating that children with reading difficulties also show deficits in various language abilities, is discussed. In the second part, following questions based on theoretical considerations and empirical results are dealt with: How are language processing and deciphering of graphems coordinated during reading and do deficits in language processing already impede the acquisition of deciphering procedures?
Das Problem: Aufgabenanforderungen beim Lesen
Auf den ersten Blick scheint das Problem beim Erwerb des Lesens allein in der Identifikation geschriebener Wörter zu bestehen. Dieser Sicht folgt auch der größte Teil der Leseforschung. Die meisten Arbeiten beschäftigen sich mit den Basisprozessen, d.h. denjenigen psychischen Vorgängen, die die Entschlüsselung graphemischer Einheiten bewerkstelligen(vgl. Scheerer 1983).
Implizit liegt dem die Annahme zugrunde, daß die Hauptdifferenz zwischen der Verarbeitung geschriebener und gesprochener Sprache in dieser spezifischen Entschlüsselung besteht. Etwas überspitzt formuliert lautet diese Annahme: Die Verarbeitungsprozesse, die von den Mustern aus Druckerschwärze zur Entnahme der Wortbedeutungen führen, sind spezifisch. Die weiteren und logisch darauf aufbauenden Teilprozesse, die dann zum Verstehen führen, sind hingegen für den Umgang mit geschriebe
nen Texten und gesprochenen Redebeiträgen identisch. Lesenlernen besteht somit im Erwerb dieser Basisprozesse, die mit den bereits vorhandenen Fertigkeiten zur Sprachverarbeitung verknüpft werden.
Bei genauerer Betrachtung stellen dagegen gesprochene und geschriebene Äußerungen recht unterschiedliche Anforderungen an das Verstehen. Befinden sich die Gesprächspartner in derselben räumlichen Situation, so ergänzt Gestik und Gesichtsausdruck, eventuell auch das direkte Verweisen auf Vorhandenes die Redebeiträge. Weiterhin werden die prosodischen Merkmale des Sprechens eingesetzt. Durch Lautstärke, Tonhöhe, Pausengestaltung, Satzmelodie und Betonung können u.a. die thematische Wichtigkeit von Teilen der Äußerung signalisiert, Satzglieder als Einheiten abgegrenzt sowie syntaktische Relationen und die Art und Weise der Verschachtelung von Satzgefügen markiert werden. All diese Merkmale des lautlichen Sprechens bildet die Schriftspra
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989
che nicht ab. Das Verstehen geschriebener Sprache ist damit weit stärker auf sprachliche Mittel im engeren Sinn verwiesen, also auf Wortstellung, Flexionen und Funktionswörter.
Aber nicht nur diese vom Übermittlungsmodus abhängigen Merkmale machen die andersartigen Anforderungen beim Lesen aus. Geschriebene Sprache ist in der Regel keine Übersetzung der gesprochenen Sprache, sondern sie ist Schriftsprache und somit strukturell verschieden. Die Wortauswahl ist eine andere und geschriebene Sätze sind zumeist komplexer, d.h. sie sind länger und umfassen mehr Nebensatzkonstruktionen(vgl. Kainz 1956). Wenn auch Leseanfänger noch nicht mit derart elaborierten Texten konfrontiert werden, so ist doch das letztliche Ziel des Leseunterrichts das Verstehen dieser Schriftsprache.
Die unterschiedliche Art der Präsentation eröffnet aber auch ganz neue Möglichkeiten. Die gesprochene Sprache ist ein flüchtiges Ereignis und Hörer müs
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