Anke Moch- Probleme leseschwacher Schüler
Verarbeitungsebenen
Text
Referentielle Repräsentation, d.h. eine Repräsentation der
bisher im Text dargestellten Sachverhalte
Satz
Satzteil
Wort(bedeutung) graphem. Einheiten
Sie beobachtete(
Sie beobachtete die beiden Katzen
Abb. 1: Modell unterschiedlicher sprachlicher Ebenen, auf denen während des Lesens Informationen verarbeitet und gespeichert werden. Dabei geben die Klammern an, daß sprachliche Einheiten(d.h. hier Satzteile und Wörter) bereits in unspezifischer Weise, quasi als Leerstellen, vor
weggenommen werden.
sen ihre Verarbeitung an die Artikulationsgeschwindigkeit der Sprecher anpassen. Demgegenüber ist der geschriebene Text simultan verfügbar. Leser können die Darbietung selber steuern. Sie können verlangsamen und beschleunigen, überspringen und bereits Gelesenes wiederholen.
Diese Überlegungen sprechen dafür, daß beim Lesen höhere und auch etwas andersgeartete Anforderungen an das Verstehen gestellt werden.
Zudem kann man nicht davon ausgehen, daß Erstkläßler bereits über ausgebildete sprachliche Fertigkeiten verfügen. Obwohl die sprechsprachliche Verständigung mit Sechsjährigen gelingt, ist die Sprachentwicklung zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Einerseits werden komplexe syntaktische Strukturen, wie z.B. bestimmte Nebensatzkonstruktionen mit der richtigen Verwendung der entsprechenden Konjunktionen später erworben. Andererseits gibt es Hinweise, daß sich die Vorgehensweise bei der Verarbeitung von Sätzen verändert. So orientieren sich Kinder erst im Verlauf der Grundschuljahre durchgehend an den grammatischen Merkmalen des Satzes, wie z.B. an Flexionsendungen und Funktionswörtern. Zuvor scheinen sie vor allem die inhaltliche Plausibilität zur Hilfe zu nehmen und eine gebräuchliche Wortordnung, wie z.B. Subjekt-Verb-Objekt, zu unterstellen, um die Funktion der einzelnen Satzteile zu erfassen(van der Geest 1978; Karmiloff-Smith 1986). Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß die Entschlüsselungsprozesse und
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die sprachliche Verarbeitung nicht in einer einfachen Weise miteinander verknüpft werden können. Vergegenwärtigt man sich das Lesen eines Satzes als Vorgang, so wird deutlich, daß die Basisprozesse und die logisch darauf aufbauende sprachliche Verarbeitung nicht aneinandergereiht werden können. Weil beide gleichzeitig geschehen, müssen sie hierarchisch verschachtelt sein. Dies soll die Abbildung 1 veranschaulichen.
Während z.B. die graphemische Anordnung„beiden” entziffert wird, kann mithilfe des mentalen Lexikons eine Wortbedeutung zugeordnet werden. Während dieser Vorgänge müssen aber die bereits gelesenen Wörter gespeichert bleiben, damit zur Konstruktion einer Satzbedeutung fortlaufend semantische und syntaktische Analysen stattfinden können. So muß die sprachliche Ebene des Satzteiles bzw. des bisherigen Satzteiles verfügbar sein, damit das jeweils nächste Wort adäquat verknüpft werden kann. Dasselbe gilt für die Ebene des bisherigen Satzes. Die Repräsentation der bisher dargestellten Sachverhalte wird hier z.B. benötigt, um dem Personalpronomen eine Person zuzuordnen. Auch verweist der bestimmte Artikel bei„die beiden Katzen“ darauf, daß zu diesen bereits etwas mitgeteilt worden ist und demnach Informationen aufeinander bezogen werden müssen(vgl. Hörmann 1977; Just& Carpenter 1987).
Die Verknüpfung von Basisprozessen und sprachlicher Verarbeitung ist also eine sehr komplexe Koordination kognitiver Vorgänge. Unsere Verarbeitungskapazität für das geistige Operieren und
kurzfristige Präsenthalten ist begrenzt. Gerade das Speichern von begonnenen aber noch nicht abgeschlossenen sprachlichen Verarbeitungseinheiten auf den verschiedenen Ebenen kann für Leseanfänger eine besondere Schwierigkeit darstellen, weil es oft lange dauert, bis sie ein Wort entschlüsselt haben.
Diese bisher vorgetragenen theoretischen
Überlegungen zu den spezifischen Auf
gabenanforderungen beim Lesen verwei
sen also darauf, daß Leseanfänger nicht nur beim Entschlüsseln der Grapheme scheitern könnten, sondern auch bei den neuen Anforderungen an die sprachliche Verarbeitung wie auch bei der Koordination. Daraus ergibt sich zum einen die empirisch zu beantwortende Frage, ob sich gute und schlechte Leser nicht nur bei den Entschlüsselungsvorgängen, sondern auch bei der sprachlichen Verarbeitung unterscheiden, und zum zweiten, ob das Lesen bzw. das Lesenlernen durch derartige Defizite entscheidend behindert wird. Diesen Fragen wird im Folgenden mit der Diskussion empirischer
Befunde und theoretischer Überlegun
gen zum Zusammenhang zwischen der
sprachlichen Verarbeitung und dem Lesevorgang nachgegangen.
Welche Möglichkeiten der Beziehung
können nun prinzipiell zwischen den
Prozessen der Entschlüsselung und der
sprachlichen Verarbeitung bestehen?
a) Fehlerhaftes Verstehen muß nicht durch Defizite der sprachlichen Verarbeitung zustandekommen, sondern kann die Folge fehlerhaft identifizierter Wörter sein.
b) Die Prozesse der Sprachverarbeitung können eine unabhängige Quelle zusätzlicher Schwierigkeiten beim Lesen darstellen.
c) Da die Basis- und Verstehensprozesse gleichzeitig stattfinden, ist prinzipiell auch eine direkte Beeinflussung der Entschlüsselung durch die logisch übergeordneten Prozesse möglich.
Bleibt anzumerken, daß sich diese mög
lichen Zusammenhänge nicht wechsel
seitig ausschließen.
Die Möglichkeiten a) und b) werden im
nächsten Kapitel, bei der Darstellung in
dividueller Differenzen, diskutiert, die möglichen Auswirkungen der Verstehens
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989