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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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prozesse auf die Entschlüsselung im da­rauffolgenden Kapitel.

Individuelle Differenzen beim Worterkennen, bei Verstehens­leistungen und bei sprachlichen Fähigkeiten

Worterkennen, Leseverstehen und Hörverstehen

Eine Reihe von Untersuchungen belegt, daß schwache Leser nicht nur beim Ent­schlüsseln graphemischer Einheiten ge­ringere Leistungen zeigen, sondern daß sie auch das Ziel des Lesens, ein ange­messenes Textverständnis, nicht errei­chen.

So wiesen Curtis(1980), McCormick& Samuels(1979) und Stanovich, Cun­ningham& Feeman(1984) für die Klas­sen 15 nach, daß die Güte des Ent­schlüsselns und das Leseverständnis hoch miteinander korrelieren(z.B. in der Un­tersuchung von Curtis bei Fünftkläßlern mit.71). Das Leseverständnis wurde da­bei über das Nacherzählen eines Textes und die Beantwortung inhaltlicher Fra­gen erhoben. Die Güte der Identifika­tion wurde mit den Indizes Genauigkeit und Geschwindigkeit beim Lesen einzel­ner Wörter erfaßt.

Weil das Leseverstehen auf richtig iden­tifizierten Wörtern basiert, muß dieser Zusammenhang noch nicht heißen, daß die schlechten Leser neben Problemen bei der Wortidentifikation auch Schwie­rigkeiten mit der sprachlichen Verarbei­tung haben. Für diese Annahme sprechen jedoch Interventionsstudien(Fleisher, Jenkins& Pany 1979; Oakan, Wiener& Cromer 1971). Schlechte Leser des vier­ten und fünften Schuljahres verstanden Texte selbst dann nicht besser, wenn sie die einzelnen Wörter und Phrasen vorab übten, bis sie diese genauso schnell und richtig lasen wie ihre Klassenkameraden. Das mangelhafte Verstehen kann also nicht allein durch langsames und fehler­haftes Entschlüsseln zustandegekommen sein. Dies zeigen auch Ergebnisse zur so­genannten Cloze-Aufgabe, bei der ausge­lassene Wörter innerhalb eines Textes er­

gänzt werden müssen. 10jährige schwache Leser machten sogar mehr Fehler als nor­mal lesende 8jährige, obwohl beide Grup­pen hinsichtlich ihrer Leistungen beim Identifizieren von Einzelwörtern ver­gleichbar waren(Guthrie 1973).

Wenn schriftsprachliche Texte vorgele­sen werden, das Entschlüsseln der Gra­pheme also entfällt, dann zeigen Kinder mit Minderleistungen beim Leseverständ­nis ebenfalls Probleme beim Hörverste­hen(Berger 1978; Curtis 1980). Dieser Zusammenhang nimmt mit dem Alter zu. Auch bei Erwachsenen findet man bei einer genauen Prüfung des Hörver­ständnisses Unterschiede, und auch bei ihnen ist diese Leistung ein guter Prä­diktor sowohl für das Leseverständnis wie für die Geschwindigkeit des Wort­erkennens(Jackson& McClelland 1979; Just& Carpenter 1987). Nur in den ersten zwei bis drei Schuljahren sind die beim Lesen auftretenden Verstehensschwie­rigkeiten wohl hauptsächlich eine Folge der mangelhaften Entschlüsselung, denn hier sind keine Zusammenhänge zwischen Lese- und Hörverständnis nachweisbar (Curtis 1980; Stanovich, Cunningham& Feeman 1984).

Zur genaueren Charakterisierung des Ver­stehensdefizits untersuchte man bei Ju­gendlichen des 7. und 9. Schuljahres, ob sich ihre Nacherzählungen auch qualita­tiv unterscheiden(Myer, Brandt& Bluth 1980; Smiley, Oakley, Worthen, Cam­pione& Brown 1977). Leseschwache Schüler erinnerten nicht nur weniger als ihre gut lesenden Klassenkameraden, sondern sie erinnerten beim Lesen wie beim Hören gerade von den Aussagen weniger, die für die jeweilige Geschichte besonders wichtig waren.

Schlechte Leser zeichnen sich also in der Regel auch durch ein generelles Verste­hensdefizit aus. Dies ist somit eine wei­tere unabhängige Quelle ihrer Leseschwie­rigkeiten.

Leseleistung und sprachliche Fähigkeiten

Leseschwache Schüler zeigen aber nicht nur beim Textverständnis geringere Lei­stungen, sondern auch bei Aufgaben zu

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989

Anke Moch- Probleme leseschwacher Schüler

einzelnen sprachlichen Fähigkeiten. In neueren Arbeiten zur Leseschwäche wird dieser Zusammenhang zwischen der Lese­leistung und sprachlichen Fähigkeiten be­sonders betont(siehe u.a. Ensslen 1984). Im Unterschied zu der Vielzahl von Kor­relationsstudien, in denen die Leselei­stung relativ atheoretisch zu anderen Fä­higkeiten und Merkmalen in Beziehung gesetzt wurde, kann man sprachliche Leistungen direkt auf den Lesevorgang beziehen. So weisen auch einige kritische Bestandsaufnahmen über diese Korrela­tionsstudien darauf hin, daß bei den mei­sten Untersuchungen die Variation der beiden korrelierenden Leistungen mit der Variation im Niveau der allgemeinen Intelligenz konfundiert ist. Der Zusam­menhang kann also auch über diese drit­te Variable zustandegekommen sein. Gerade für die sprachlichen Leistungen trifft diese Kritik aber nicht zu, d.h. hier treten Differenzen auch zwischen nor­mal intelligenten guten und schlechten Lesern auf(u.a. Mann 1984; Vellutino 1979).

Im folgenden werden empirische Arbei­ten zu den Defiziten schlechter Leser bei einzelnen sprachlichen Bereichen berichtet und zwar bei der Anwendung morphologischen Regelwissens, dem Ver­stehen komplexer grammatischer Struk­turen, dem Entdecken grammatischer Fehler, dem Abruf und der Verarbeitung von Wortbedeutungen sowie dem Erstel­len und Aufrechterhalten einer internen phonologischen Repräsentation. Bei den untersuchten schlechten Lesern handelt es sich nicht um Kinder mit Sprachent­wicklungsstörungen, d.h. nicht um Kin­der, die bereits bei der sprechsprachli­chen Verständigung auffällig sind. Bei einer gesonderten Überprüfung sprach­licher Leistungen außerhalb der alltägli­chen Verständigung werden also Diffe­renzen zwischen Personen deutlich, die sonst nicht offensichtlich sind.

Fast alle Untersuchungen beziehen sich auf eine oder zwei Altersgruppen inner­halb der ersten fünf Schuljahre. Diese Angaben werden im weiteren Text nicht mehr gesondert vermerkt. Die Einteilung in gute und schlechte Leser basiert in allen Arbeiten auf Testdaten. Zumeist bestehen diese Lesetests aus inhaltlich

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