Wolfgang Meins
den Alsterdorfer Anstalten zahlreiche Bewohner zum Opfer fielen(Wunder et al. 1987; vgl. a. Meins 1988b). Untersuchungen zur Geschlechtsabhängigkeit aggressiver Verhaltensstörungen bieten kein einheitliches Bild. Ein häufigeres Vorkommen bei Männern(Eyman & Call 1977) wird ebenso berichtet wie ein zwischen Männern und Frauen nicht unterschiedliches(Leudar et al. 1984). Die in etlichen Untersuchungen an verschiedenen Gruppen mit aggressiven Verhaltensproblemen nachgewiesene Überrepräsentation von Epilepsiepatienten wird weniger auf die Epilepsie selbst als vielmehr auf die zugrundeliegende Hirnschädigung zurückgeführt(Fenwick 1986), deren Relevanz wiederum komplex beeinflußt wird durch soziale Variablen und die individuelle Lerngeschichte(Mungas 1983). Vor diesem Hintergrund erscheint es als durchaus stimmig, daß in der untersuchten Stichprobe— in der eine Hirnschädigung ja häufig und nicht vorwiegend nur bei den Epilepsiekranken vorkommt— ein Zusammenhang zwischen Epilepsie und aggressivem Verhalten lediglich als Tendenz nachgewiesen werden konnte.
Mit 43% bemerkenswert hoch wird die Rate derjenigen angegeben, bei denen die aggressiven Verhaltensweisen seltener geworden sind. Die Bedeutung eines der dafür häufig genannten Gründe konnte auch empirisch nachgewiesen werden: Rago et al.(1978) fanden einen deutlichen Rückgang aggressiver Verhaltensweisen nach Vergrößerung des Raumangebots. Bei den von Bruininks et al. (1988) mitgeteilten Reaktionen des Personals auf aggressives Verhalten fällt ein häufigeres Vorkommen von systematischem Ignorieren und der Notwendigkeit, Hilfe zu holen, auf. Ersteres ist sicherlich auf die in den USA verbreitetere Verhaltenstherapie(König 1987) zurückzuführen, letzteres kann sowohl auf geringere Qualifikation des Personals als auch auf tatsächlich schwerwiegenderes aggressives Verhalten bei den untersuchten geistig Behinderten in den USA hinweisen.
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Von den neun in die Diskriminanzanalyse einbezogenen(unabhängigen) Variablen leisten vier einen Beitrag zur Trennung zwischen den Gruppen mit häufigeren bzw. selteneren aggressiven Verhaltensweisen. Die folgende Diskussion konzentriert sich auf drei dieser Variablen;auf die Bedeutung der Epilepsie wurde bereits eingegangen. Es sei jedoch noch auf den überraschenden Befund hingewiesen, daß das Niveau der Sprachentwicklung offensichtlich nicht im Zusammenhang mit der Häufigkeit aggressiven Verhaltens steht, obwohl gerade Sprachbehinderungen als ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung psychischer Störungen angesehen werden (Russel 1988). Möglicherweise gilt dies nicht ohne weiteres auch für die Frequenz aggressiver Verhaltensstörungen. Daß sich auch in der vorliegenden Untersuchung die Institutionalisierungsdauer als eine nicht bedeutsame Variable erwies, stimmt dagegen mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen überein (Borthwick 1988).
Häufiges aggressives Verhalten geht vor allem einher mit Problemen im Umgang mit Frustration und Kritik. Ein Befund, der sich zusammen mit der hohen Rate für erkennbare auslösende Reize zwanglos in die bekannten Zusammenhänge zwischen Frustration und Aggression (z.B. Dollard et al. 1971) einordnen läßt. Im Hinblick auf daraus ableitbare therapeutische Interventionen wäre wichtig zu klären, ob es sich dabei eher um ein sog. Performanzdefizit(Eisert 1986) handelt, etwa aufgrund der bei Hirngeschädigten verminderten Impulskontrolle(Mungas 1983), oder ob die Betreffenden diese Fertigkeiten nie erlernen konnten. Auch bezüglich der mit häufigem aggressiven Verhalten einhergehenden defizitären Selbsthilfefertigkeiten stellt sich die Frage, inwieweit bestehende Fertigkeiten nicht angewandt werden können oder ein erhöhtes Niveau emotionaler Aktivierung das Lernen verhindert hat(Gresham& Elliot 1987). Über die Auswirkungen gezielter Förderung von Selbsthilfefertigkeiten
+ Aggressives Verhalten bei geistig behinderten Personen
auf aggressive Verhaltensstörungen liegen bisher keine Berichte vor.
In ihrer Längsschittuntersuchung an insgesamt 629 geistig behinderten Personen zwischen 16 und 45 Jahren belegen Leudar et al.(1984), daß aggressives Verhalten zur Störung oder gar zum Abbruch sozialer Beziehungen führt, mit daraus resultierenden Störungen von Stimmung und Affekt. Vor dem Hintergrund dieser Befunde darf vermutet werden, daß verminderte soziale Unterstützung sowohl Folge als auch Ursache häufigen aggressiven Verhaltens sein kann. Mögliche Zusammenhänge zwischen Affektstörung und sozialer Unterstützung bei geistig behinderten Personen diskutieren Reiss& Benson(1985): Der Forschungsstand könne z.Zt. die komplexen Beziehungen zwischen beiden Dimensionen noch nicht vollständig erklären. Es sei aber anzunehmen, daß den— bei unzureichender sozialer Unterstützung— verminderten Bewältigungsmöglichkeiten schwieriger Lebenssituationen eine wichtige Bedeutung zukomme. Interessanterweise liefern auch psychobiologische Forschungsergebnisse Hinweise auf affektiven und aggressiven Störungen gemeinsame biologische Grundlagen(van Praag 1986).
Trotz der begrenzten Anzahl erfaßter unabhängiger Variablen wurde durch die Diskriminanzanalyse ein Drittel der Varianz aufgeklärt. Ein Anteil, der sicherlich erhöht werden kann durch Untersuchungspläne mit geeigneten Kontrollgruppen. Die hier vorgelegten Ergebnisse lassen es sinnvoll erscheinen, den Zusammenhängen zwischen Psychopathologie einerseits und sozialer Kompetenz und sozialer Unterstützung andererseits bei geistig behinderten Menschen mehr Aufmerksamkeit als bisher zu widmen. Das gilt sowohl für ätiologische Fragestellungen als auch für therapeutische Interventionen.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989