Wolfgang Meins
Aggressives Verhalten bei geistig behinderten Personen
Tabelle 3: Vorkommen und Frequenz einzelner aggressiver Verhaltensweisen
Verhalten
treten, schlagen, ohrfeigen 85 stoßen, kratzen, kneifen 82 drohende Gebärden 80 gegen Möbel treten/schlagen 62 mit Gegenständen werfen 42 an den Haaren ziehen 37 zerreißen von Büchern u.ä. 27 beißen 26 Gegenstände als Waffe benutzen 26
Vorkommen(n= 109)
Frequenz(%)*
78,0 17 18 32 8 75,2 n 17 33 13 73,4 6 15 22 30 56,9 19 Ss 16 7 38,5 33 7 9 7 33,9 14 1 8 1 24,8 8 S 7 Ss 23,9 10 6 3 4 23,9 16 3 4 2
* A: seltener als monatlich;
20% der Fälle vorkommen. Beispielsweise kommt ein ausgesprochen gefährliches Verhalten— das Würgen anderer— nur bei 7.3% der Fälle bzw. 1.2% der Gesamtstichprobe vor. Die aufgeführten aggressiven Verhaltensweisen sind, bis auf zwei, alle gegen Personen gerichtet. Die drei am häufigsten vorkommenden Verhaltensweisen— jeweils bei ca. drei Viertel der Fälle— zeichnen sich auch durch eine recht hohe Frequenz aus. Sie treten überwiegend wöchentlich oder gar täglich auf.
Zur weiteren statistischen Analyse wurde für jeden der 109 Fälle ein Gesamtaggressionsscore gebildet unter Verwendung der nach Frequenz gewichteten 19 Aggressionsitems. Durch Dichotomisierung am Median entstanden zwei Gruppen: Gruppe A(n= 57) mit seltener und Gruppe B(n= 52) mit häufiger vorkommenden aggressiven Verhaltensweisen. Mittels Diskriminanzanalyse wurde dann untersucht, welche der folgenden unabhängigen Variablen zwischen den beiden Gruppen zu trennen vermögen: Alter(x= 39.3 Jahre), Geschlecht, Dauer der Institutionalisierung(X= 22.8 Jahre), Grad der geistigen Behinderung, (behandelte) Epilepsie, Selbsthilfefertigkeiten, Sprachentwicklung, psychologische Störung, soziale Unterstützung. Die schrittweise Diskriminanzanalyse wurde durchgeführt mit dem entsprechenden Programm des SPSS(Schubö& Uehlinger 1986), wobei das F-to-enter einen Wert von zwei überschreiten mußte. Die höchste Korrelation innerhalb der unabhängigen Variablen— zwischen Grad der geistigen Behinderung und Selbsthilfe
B: monatlich;
C: wöchentlich; D: täglich Tabelle 4: Ergebnisse der Diskriminanzanalyse
Standardisierter Diskriminanz
Variable koeffizient Psychologische Störung-0,923 Soziale Unterstützung 0,654 Selbsthilfefertigkeiten 0,630 Epilepsie-0,316
fertigkeiten— beträgt-.60, so daß mit bedeutsamen Multikollinearitätsproblemen nicht zu rechnen ist. Die beiden übrigen Korrelationen zwischen Grad der geistigen Behinderung und Skalen der sozialen Kompetenz liegen bei-.42 für Sprachentwicklung und-.33 für Psychologische Störung. N
Die Diskriminanzanalyse ergab ein signifikantes Wilks’ Lambda von 0.680[x?= 40.50(df= 4); p< 0.001]. Es konnten 32.0% der Varianz zwischen den beiden Gruppen aufgeklärt und 77.1% der Fälle korrekt klassifiziert werden. In Tabelle 4 sind die zwischen den Gruppen trennenden vier Variablen aufgeführt. Demnach läßt sich die Gruppe B(mit häufigem aggressiven Verhalten) charakterisieren durch ein hohes Ausmaß an psychologischer Störung, geringe Selbsthilfefertigkeiten und wenig soziale Unterstützung sowie häufigeres Vorkommen von Epilepsie. Da die Variablen um so bedeutsamer sind, je größer der Absolutbetrag des standardisierten Diskriminanzkoeffizienten ist, trägt die Variable psychologische Störung am stärksten zur Trennung zwischen den Gruppen bei, Epilepsie dementsprechend deutlich am wenigsten.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989
Diskussion
In der untersuchten Stichprobe kommt bei nahezu jedem Sechsten aggressives Verhalten vor, das überwiegend gegen Personen und nicht ganz so häufig auch gegen Objekte gerichtet ist. Ein Vergleich mit anderen Untersuchungen ist problematisch, da entsprechende Studien aus der Bundesrepublik nicht vorliegen und Ergebnisse aus den USA, insbesondere aufgrund von Stichprobeneffekten, nur bedingt vergleichbar sind. Die von Bruininks et al.(1988) mitgeteilte Prävalenzrate von 30.3%— für gegen andere Personen gerichtetes aggressives Verhalten— bei überwiegend höhergradig geistig behinderten Bewohnern aller Altersgruppen großer staatlicher Institutionen liegt deutlich über der in der vorliegenden Untersuchung ermittelten Rate. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß es in den großen staatlichen Anstalten der USA in den vergangenen Jahren, aufgrund der in großem Stil durchgeführten Deinstitutionalisierung, zu einer erheblichen Konzentration derjenigen mit gravierenden Verhaltensproblemen gekommen ist(Borthwick-Duffy et al. 1987).
Die Prävalenz aggressiven Verhaltens weist in der vorliegenden Untersuchung eine ganz erhebliche Altersabhängigkeit auf: Bei den 19—40jährigen ist sie— bezogen auf die Gesamtstichprobe— fast achtmal so hoch wie bei den mindestens Sechzigjährigen. Dieses Ergebnis ist zumindest in der Tendenz durchaus konsistent mit dem anderer Autoren(Duker et al. 1986). Soweit sich darin nicht der sogenannte natürliche Verlauf aggressiver Verhaltensstörungen abbildet, verweist es auf Konsequenzen aus den veränderten Betreuungsangeboten für geistig behinderte Menschen: Auch in der Bundesrepublik— ähnlich wie in den USA— scheinen die großen Anstalten angesichts der wachsenden Zahl kleinerer, gemeindenaher Einrichtungen mehr und mehr zu einem Ort für die zusätzlich erheblich psychisch gestörten Personen zu werden. Es muß außerdem angenommen werden, daß wir hier konfrontiert werden mit Auswirkungen der Politik des Nationalsozialismus, der auch in
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