Buchbesprechungen
Speck, Otto. System Heilpädagogik. Eine Ökologisch reflexive Grundlegung. 1988. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel.
Das 456 Seiten starke Buch mit angehängtem Namen- und Sachverzeichnis besteht aus 16 Kapiteln mit den folgenden Inhalten bzw. Kapitelüberschriften: I Heilpädagogik in der Wendezeit, II Historische Ansätze heil- oder sonderpädagogischer Theoriebildung, III Wirklichkeit und Wissenschaft, IV Theoretische Systematisierung einer speziellen Pädagogik, V Die Komplexität und Problematik des Behinderungsbegriffs, VI Anthropologische Grundlagen der Heilpädagogik, VII Komplementäre Wissenschaftsstruktur einer speziellen Pädagogik, VIII Heilpädagogische Begriffssystematik, IX Ökologische Perspektiven heilpädagogischen Handelns, X Der heilpädagogische Handlungsansatz, XI Integration— Gemeinsames Lernen und Leben, XII Frühförderung, XIII Familie und Heilpädagogik, XIV Arbeit mit behinderten Erwachsenen, XV Berufsbildung und berufliche Eingliederung, XVI Professionelle Kooperation.
Gegen Ende eines langen Berufslebens legt Otto Speck der interessierten Öffentlichkeit eine vielleicht als monumentales Werk gedachte Schrift vor, an die die Leser natürlicherweise einige Erwartungen stellen dürfen. Denn Otto Speck ist in unserem Lande eine Institution, die prägend für die Entwicklung innerhalb der Disziplin und deren Außendarstellung ist bzw. geworden ist. An die 170 Veröffentlichungen(vgl. die ihm zu seinem 60sten Geburtstag gewidmete Festschrift, hrsg. von M. Thalhammer (1986). Gefährdungen des behinderten Menschen im Zugriff von Wissenschaft und Praxis. München, Basel: Reinhardt) sind mit seinem Namen verbunden, eine Anzahl, die nachdenklich stimmt.
Ist es übertrieben, angesichts des potentiellen Gewichts dieses neuen Werkes von Otto Speck auf die Einhaltung elementarer Regeln wissenschaftlichen Arbeitens zu bestehen, die Studenten gewöhnlich in den ersten Semestern beigebracht werden? Diesen wird es zu Recht als Schludrigkeit angekreidet, wenn Quellen bei sinngemäßen oder wörtlichen Zitaten nicht oder nur unvollständig angegeben werden, so daß der Leser den Zusammenhang entweder nur mit erheblichem und unnötigem Aufwand
selbst nachsehen kann oder aber überhaupt nicht und damit zum Glauben gezwungen wird. Speck scheint sich selbst mit soviel Autorität ausgestattet zu sehen, daß er die hermeneutischen Grundregeln entsprechend weit auslegen zu können meint. Das fängt schon in der Einleitung(S. 11) an, wo er ein PopperZitat ohne Seitenzahl präsentiert. Auf der Seite 32 belegt er die zunächst ja nicht unwichtige Aussage, daß die„Abspaltung des rational nicht Faßbaren... inzwischen zu krankmachenden Entfremdungen größeren Ausmaßes*“‘ führe, mit drei in Klammern gesetzten Namen E. Fromm, E.F. Schumacher und H. Pietschmann, ohne irgendwelche weiteren Quellennachweise. Die in unserer Disziplin oft erwähnte Feststellung von Moor, daß Heilpädagogik Pädagogik sei und nichts anderes, zitiert Speck auf Seite 40 ohne Quellenangabe, was für eine „Einführung in die Heil- oder Sonderpädagogik“‘(s. S. 9), als die dieses Buch unter anderem dienen soll, besonders bemerkenswert ist. Es würde den Leser, nicht nur den pädagogischen Anfänger, auch interessieren, wo Kant gesagt haben soll, daß„die Wahrheit*‘‘,„die Dinge an sich‘ von uns„nicht bestimmbar‘“‘ seien(S. 62). Dasselbe ließe sich zu den bekannten drei Kantschen Grundfragen (S. 58 und S. 168) anmerken, die ebenfalls quellenmäßig beide Male nicht belegt sind. Auf Seite 315 zitiert Speck wörtlich aus dem Abschlußbericht einer Montessori-Schule— wieder ohne Angabe einer Quelle. Auf Seite 405 f. bringt er das ethisch aussagefähige Zitat eines holländischen Arztes mit Namen W. Metz, daß der schwer geistig Behinderte nur physiologisch lebe und somithin kein Mensch sei bzw. werden könne. Er gibt an, daß er nach v. Lüpke zitiert, den man im Literaturverzeichnis allerdings vergeblich sucht.
Es handelt sich hierbei nicht um Einzelbeispiele, für die jeder, der selbst gelegentlich zur Feder greift, Verständnis aufbringen würde. Es handelt sich vielmehr um eine in diesem Buch geläufige Erscheinung, die in enger Verbindung mit der von Speck gepflegten Praxis des „name dropping‘‘ zu sehen ist: in Klammern gesetzte Berühmtheiten, die ohne weitere Angaben in einen Textzusammenhang plaziert werden(S. 80: Einstein; S.95: Plessner; S. 186: Schiller etc. etc.) dürften wohl eher die Funktion der Selbstdarstellung erfüllen als
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989
daß sie dem Leser eine sachlich dienliche Information bieten. Mag sein, daß Otto Speck mit seinem Band nicht Leser ansprechen möchte, für die Sorgfalt auch im Kleinen einen Wert darstellt, sondern solche, die eher an den größeren soziokosmischen Zusammenhängen interessiert sind, die sich hinter den Trivialitäten des heilpädagogischen Alltags verbergen. So stellt Speck(S. 197) beispielsweise fest:„Angesichts der ungeheuren Bedrohung durch eine äußere Welt, die der Mensch dem technologischen Fortschritt folgend gebaut hat, scheinen die Chancen zu wachsen, daß sich der Mensch mehr seiner Innenwelt zuwendet*‘‘ oder(S. 197):„Der Versuch, das Zusammenleben der Menschen vornehmlich über Technologie und Staat verbessern zu wollen, ist gescheitert‘‘. Das sind Gedanken von einer Erhabenheit, die Fragen nach irgendwelchen Belegen kleinkariert erscheinen lassen muß. Das Fragen vergeht dem Leser ebenfalls, wenn Speck bei einem seiner ermüdend oft wiederholten Hinweise auf die„soziale und personale Integration‘‘ feststellt(S. 264):„Auf dieses Ziel zu will der Mensch mit seiner Behinderung selber ganz Mensch werden und am Sinn des Ganzen handelnd partizipieren.‘‘ Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß Speck den Drang zu großen„Pädagogenworten“‘ gegenüber Pestalozzi durchaus moniert(S. 231 f.).
Die Diktion dieses Buches dürfte vor allem beim unerfahrenen Leser den Eindruck tiefen Wissens über die menschliche Natur, das menschliche Denken, über die Welt und ihr künftiges Schicksal hinterlassen. Vor einem solchen Hintergrund ist es einigermaßen verwunderlich, daß Speck etwa über die einflußreiche Ethik des Utilitarismus(S. 187 und S. 306) nicht einmal das verarbeitet, was im Fremdwörter-Duden zu finden ist, sondern sich mit dem umgangssprachlich verzerrten Verständnis dieses Wortes begnügt. Das ist aber nicht nur deshalb erstaunlich, weil Speck offensichtlich sehr um große bzw. bekannte Philosophen bemüht ist und sie mit Sprüchen immer mal wieder zu Wort kommen läßt, also eine Affinität zu großen Denkleistungen signalisiert, die bei dieser Ethik auch von ihrem Gegner uneingeschränkt anerkannt wird. Die Verwunderung entsteht außerdem angesichts seines nach wie vor äußerst distanzierten Verhältnisses gegenüber der Philosophie
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