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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

Sexueller Mißbrauch von körperbehinderten Menschen

ist jede bewußte, nicht zufällige

nicht zwangsläufig physische, aber immer auch psychisch gewaltsame

ohne Körperkontakt

|

einhergehende sexuelle Handlung.

gleichaltrige/ jugendliche

|

Täter

seine strukturelle, psychische und/oder physische Machtposition aus,

um seine eigenen emotionalen und sexuellen

Bedürfnisse zu befriedigen.

Abb. 1: Bestimmungsmerkmale sexuellen Mißbrauchs

1981 auf demKrüppeltribunal auf die Problematik aufmerksam machten, wird dieses Tabuthema erst zu Beginn der 90er Jahre bearbeitet. Gesellschaft­liche Vorurteile über die Sexualität be­hinderter Frauen und Männer haben dazu beigetragen, daß bis heute keine angemessene Aufarbeitung dieser The­matik stattgefunden hat(Zemp, 1992). Vor diesem Hintergrund führten wir eine gründliche Analyse der relevanten Fach­literatur sowie eine kleine explorative Studie durch.

Ziel der Literaturanalyse war es, den For­schungsstand zum sexuellen Mißbrauch körperbehinderter Menschen zu ermit­teln; dazu wurden epidemiologische Da­ten analysiert und die Gefährdungsfak­toren eruiert.

Mit einer Befragung von Sonderpäd­agoginnen und Sonderpädagogen soll­ten deren Informationsstand und Sensi­bilität gegenüber sexuellem Mißbrauch, ihre Einschätzung der Gefährdung von

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körperbehinderten Menschen sowie die faktischen Möglichkeiten der Präventiv­arbeit exploriert werden.

Begriffsverständnis

Wir fassen unter den Begriff des sexuel­len Mißbrauchs(vgl. Abb. 1) in Überein­stimmung mit den meisten Experten die­ses Fachgebietes sowohl sexuelle Hand­lungen, bei denen es zu direkten Kör­perkontakten zwischen Täter und Opfer kommt(contact abuse), als auch solche, die ohne Körperkontakt vonstatten ge­hen(noncontact abuse)(vgl. Bange 1989a, 36; Bange 1989b, 10-11; Cole 1986, 72; Morgan 1987, 38-39; Peters, Wyatt& Finkelhor 1986; Saller 1987, 29-30; Sgroi, Blick& Porter, 1982). Zu letzteren zählen beispielsweise: das Zurschaustellen von Genitalien, weil es dem Täter sexuelle Erregung bereitet;

bewußtes Masturbieren vor den Kin­dern oder Jugendlichen;

das Opfer zum Masturbieren veran­lassen;

gemeinsames Anschauen pornogra­phischer Filme usw.;

Beobachtung der Opfer beim Wa­schen, Baden oder auf der Toilette;

verbale Belästigungen.

Unter Sensibilität wird im ursprüngli­chen Wortsinn von(lat.) sentire= füh­len, empfinden und wahrnehmen die Feinfühligkeit, die Fähigkeit zur Emp­findung und Wahrnehmung bestimmter Reize verstanden. Im vorliegenden Zu­sammenhang geht es um die Fähigkeit bzw. das Niveau der Fähigkeit, Anzei­chen, Situationen und Handlungen ei­nes sexuellen Mißbrauchs wahrzuneh­men.

Forschungsstand Epidemiologie

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es gegenwärtig keine Inzidenzstudien zum sexuellen Mißbrauch behinderter Menschen.

In den USA liegen nach unserem Kennt­nisstand zur Zeit zwei Inzidenzstudien vor. DieSeattle Rape Relief Study er­faßte von 1977 bis 1983 jährlich 100 betroffene behinderte Menschen; 99% der Opfer wurden von Personen miß­braucht, die ihnen vertraut oder bekannt waren(Seattle Rape Relief, 1993). In Minneapolis, Minnesota wurden in­nerhalb einer 1Smonatigen Datenerhe­bungsphase, die 1979 endete, über 60 Fälle von physischer und sexueller Ge­walt gegen behinderte Menschen doku­mentiert(Stuart& Stuart 1981, 246). Inzidenzraten sexueller Gewalt gegen be­hinderte Menschen geben das Ausmaß des Problems nur sehr unzureichend wie­der, da nur wenige Fälle den Behörden oder Kinderschutzzentren bekannt wer­den. Schätzungen des Seattle Rape Reli­ef Project gehen davon aus, daß höch­stens 20% aller sexuellen Übergriffe auf behinderte Menschen Kinderschutzor­ganisationen und anderen Hilfseinrich­tungen gemeldet werden(Seattle Rape

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

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