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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

Relief, 1993). Aus diesen Angaben läßt sich für den Raum Minneapolis inner­halb der 15Smonatigen Erhebungsphase eine Zahl von 300 betroffenen behinder­ten Menschen eruieren. Auf der Basis der in Seattle dokumentierten Fälle er­gäbe sich eine Zahl von jährlich 500 be­troffenen behinderten Menschen. Prävalenzraten zum sexuellen Miß­brauch körperbehinderter Menschen wurden in den Studien von Ammerman, van Hasselt, Hersen, McGonigle& Lu­betsky(1989), Benedict, White, Wulff & Hall(1990), Brown(1988) und Dou­cette(1986, zit. nach Westcott 1991) er­hoben. Bei keiner der aufgeführten Un­tersuchungen lag der Schwerpunkt je­doch auf dem sexuellen Mißbrauch. Die Datenerhebung erfolgte bei Ammerman et al.(1990), Benedict et al.(1990) und Doucette(1986, zit. nach Westcott 1991) vielmehr im Rahmen von Studien zur Mißhandlung von behinderten Men­schen. Aus dieser Vorgehensweise erge­ben sich erhebliche methodische Unzu­länglichkeiten für die Ermittlung epide­miologischer Daten über sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen: Es werden weder Angaben über die den Studien zugrundeliegende Definition des sexu­ellen Mißbrauchs gemacht die Ver­gleichbarkeit der Untersuchungsergeb­nisse wird dadurch stark eingeschränkt , Noch wird bei der Auswertung in vie­len Bereichen zwischensexuellem Miß­brauch undanderen Mißhandlungs­formen differenziert, so daß die Er­kenntnisse für die hier zu bearbeitende Fragestellung nicht nutzbar gemacht werden können. In der folgenden Dar­stellung der obengenannten Studien wer­den daher nur solche Ergebnisse vorge­stellt, die sich eindeutig auf den sexuel­len Mißbrauch behinderter Menschen beziehen.

Die Spannweite der in den Studien er­mittelten Prävalenzraten ist erheblich. Benedict et al.(1990) eruierten lediglich bei 1% der von ihnen untersuch­ten mehrfachbehinderten Kinder(vgl. Tab. 1) sexuellen Mißbrauch, während bei Doucette(1986) 47% der befragten behinderten Frauen von sexuellen Über­griffen berichteten. Die relativ niedri­gen Prävalenzraten bei Benedict et al.

Tab. 1: Zusammenfassung der Studien zum sexuellen Mißbrauch körperbehinderter Menschen

Untersuchung Größe der Stichprobencharakteristik Art Prävalenz Stichprobe(Behinderung) der Informations­gewinnung Ammerman 150 Kinderund Mehrfachbehinderte Kinder und Retrospektiv- 14% et al.(1989) Jugendl. Jugendliche. Primärbehinderun- analyse medizini­(3-19 Jahre) gen: Anfallsleiden(44%), senso- scher Datenblätter rische Beeinträcht.(16%), Körper­behind.(16%), Down-Syndrom (6%), andere Beeinträcht.(18%) Benedict 500 Kinder Mehrfachbehinderte Kinder. ICP Retrospektiv- 1% et al.(1990)(82%), Anfallsleiden(36%), eine analyse von geringere Anzahl der Kinder wies Aufzeichnungen andere körperliche Schädigungen, der medizin., visuelle und/oder kommunikative pflegerischen Beeinträchtigungen auf; bei 96,8% u. sozialen lagen leichtere bis schwere intel- Betreuung lektuelle Beeinträchtigungen vor. Brown 26 Erwachsene: Freiwillig teilnehmende körperbe- Retrospektiv- 19% (1988) 13 Frauen, hinderte Erwachsene, ohne intel- befragung 13 Männer lektuelle Beeinträchtigungen. ICP (22-57 Jahre)(n= 21), Spina bifida(n= 2), Ar­throgypose(n= 1), Hüftgelenk­luxation(n= 1), Blindheit,(n= 1) Doucette 30 behinderte Freiwillig teilnehmende behinder- Retrospektiv- 47% (1986) und 32 te und nichtbehinderte Frauen befragung behinderte nichtbehinderte Frauen; Frauen 34% nichtbeh. Frauen

(1990) und Ammerman et al.(1989) las­sen sich vermutlich auf die Datenerhe­bungstechnik zurückführen. Beide For­schungsgruppen erhoben ihre Daten an­hand retrospektiv analysierter medizini­scher Aufzeichnungen(sowie psycholo­gischer, pflegerischer und sozialer Do­kumentation bei Benedict et al. 1988) des Personals der betreuenden Einrichtun­gen. Diese Vorgehensweise ermöglicht keine Einflußnahme auf die Qualität und die Art der gesammelten Informationen (Westcott 1991, 244). Ammerman et al. (1989, 341) weisen auch in der Diskus­sion ihrer Ergebnisse darauf hin, daß Informationen über Mißhandlungen oder sexuellen Mißbrauch von Medizinern selten in einer umfassenden und stan­dardisierten Form erfaßt wurden. Es ist daher anzunehmen, daß bekanntgewor­dene Fälle von Mißhandlungen und se­xuellem Mißbrauch nicht in die Akten aufgenommen wurden oder daß die Qua­lität der Aufzeichnungen in der Retro­spektive keine Interpretation der Daten im Hinblick auf Mißhandlung oder se­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

xuellen Mißbrauch zulassen. Die von Ammerman et al.(1989) und Benedict etal.(1990) angewandte Datenerhe­bungstechnik erlaubt des weiteren ledig­lich die Erfassung bekanntgewordener Fälle sexuellen Mißbrauchs. Ammerman et al.(1989) bemerken:certain charac­teristics displayed by multihandicapped children often make identification of abuse more difficult(341). Viele be­hinderte Menschen, besonders solche mit schwersten Behinderungen,are unable to understand and/or verbalize episodes of physical or sexual abuse(Ammer­man 1988, 64). Häufig sind deshalb nur Formen sexueller Gewalt nachweisbar, die aufgrund medizinischer Symptome, z.B. anale und/oder vaginale Läsionen, diagnostiziert werden können. Dies er­klärt den hohen Anteil ermittelter schwerster Formen sexuellen Miß­brauchs bei Ammerman et al.(1989): In 66% kam es zur Penetration. Die For­schungsgruppe von Ammerman(1989) folgert aus den methodischen Unzuläng­lichkeiten ihrer Studie, daß die von ih­

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