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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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nen ermittelte Prävalenzrate die Zahl der mißbrauchten und mißhandelten behin­derten Menschen unterrepräsentiert. Das von Benedict et al.(1990) ermittel­te Ergebnis von knapp 1% sexuell miß­brauchter Kinder und Jugendlicher un­ter den Informanten(vgl. Tab. 1) unter­schätzt unseres Erachtens das Ausmaß sexueller Gewalt gegen behinderte Men­schen erheblich. Die niedrige Prävalenz­rate ist vermutlich neben den bereits dar­gestellten methodischen Unzulänglich­keiten auf den Schweregrad der Behinde­rungen der untersuchten Personengruppe zurückzuführen. Möglicherweise war eine Identifikation des Mißbrauchs aus den bereits oben genannten Gründen in vielen Fällen nicht möglich.

Brown(1988) und Doucette(1986) führ­ten im Gegensatz zu Ammerman et al. (1989) und Benedict et al.(1990) in ih­ren Studien Face-to-Face Interviews mit behinderten Menschen durch. Diese Er­hebungsmethode begünstigt nach einer Untersuchung von Peters, Wyatt& Fin­kelhor(1986) die Aufdeckungsbereit­schaft sexuellen Mißbrauchs seitens der Befragten(38). Die dokumentierten ho­hen Prävalenzraten belegen diese The­se. Einschränkend muß jedoch erwähnt werden, daß die Befragten nicht mittels einer Zufallsstichprobe ausgewählt wur­den. Die freiwillige Teilnahme der Infor­manten kann eine Überrepräsentation be­hinderter Menschen, die sexuelle Über­griffe erlebten, begünstigen, da vermut­lich vorwiegend selbst betroffene oder an der Themenstellung interessierte Per­sonen an der Befragung teilnahmen. An­dererseits grenzte Brown(1988) ihre Stichprobe auf körperbehinderte Men­schen ohne intellektuelle Beeinträchti­gungen ein. In der Literatur werden je­doch gerade Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen als besonders ge­fährdete Risikogruppe herausgestellt (vgl. u.a. Elvik 1990; Morgan 1987; ODay 1983; Senn 1993; Zirpoli 1986). Aus dieser Perspektive würde die von Brown(1988) ermittelte Prävalenzrate das tatsächlich zu erwartende Ausmaß unterrepräsentieren.

Die Prävalenzraten zum sexuellen Miß­brauch von nichtbehinderten Jungen und Mädchen weisen ebenfalls große Hetero­

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Wyatt(1985)

Russell(1983)

Lewis(1985)

Finkelhor(1979) ass

Bange(1992)

Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

Abb. 2: Prävalenzraten von sexuellem Mißbrauch bei nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen

(Datenquelle: Peters, Wyatt& Finkelhor 1986)

genität auf. Den ermittelten Daten lie­gen unterschiedliche Definitionen von sexuellem Mißbrauch, divergierende Stichprobencharakteristika sowie von­einander abweichende Untersuchungs­methoden zugrunde. Bei einer Zusam­menschau von Studien, bei denen hin­sichtlich der verwendeten Definition von sexuellem Mißbrauch(weite Definition = contact und noncontact abuse) rela­tive Übereinstimmung besteht, liegen die Prävalenzraten bei sexuellem Mißbrauch von Mädchen zwischen 19% und 62%, bei sexuellem Mißbrauch von Jungen zwischen 9% und 16%(vgl. Abb. 2 und Tab. 2).

Zusammenfassend muß konstatiert wer­den, daß beim derzeitigen Forschungs­stand eindeutige Angaben über das Aus­maß sexueller Gewalt gegen behinderte Menschen kaum möglich sind. Die wei­ter oben dargestellten methodischen Un­zulänglichkeiten der Studien sowie die nicht unmittelbar nachvollziehbaren De­finitionen des sexuellen Mißbrauchs ver­weisen deutlich auf die Problematik ei­ner Interpretation dieser Daten. Ange­sichts des geringen überhaupt zur Ver­fügung stehenden Datenmaterials kön­nen die von Brown(1988) und Doucette (1989) ermittelten Prävalenzraten jedoch als erste Orientierungspunkte dienen.

Tab. 2: Prävalenzstudien über die Vorkommenshäufigkeit von sexuellem Mißbrauch bei nichtbehin­derten Personen(Datenquelle: Peters, Wyatt& Finkelhor 1986)

Untersuchung Jahr Stichproben- Art der Stichprobe Art der Prävalenz(%) umfang(N) Befragung

weibl. männl. weibl. männl. Bange 1992 518 343 Studentenbefragung FFI' 35 15 Finkelhor 1979 530 266 Studentenbefragung FB? 19 9 Lewis 1985 1374 1252 Repräsentativbefragung TP 27 16 Russell 1986 930- Repräsentativbefragung FF 54 ­Wyatt 1985 248- Repräsentativbefragung FF 62= 1 FFI: Face-to-Face Interview

? FB: Fragebogen

3 TI: Telefoninterview

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

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