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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

Danach kann davon ausgegangen wer­den, daß 19% bis 47% der behinderten Menschen von sexuellem Mißbrauch be­troffen sind; bei nach Stichprobengröße gewogener Prävalenzrate beider Studi­en sind es 39% betroffene Frauen. In Anbetracht methodischer Schwierigkei­ten bei der Aufdeckung sexueller Über­griffe auf Menschen mit schweren und schwersten Beeinträchtigungen ist auch eine höhere Anzahl betroffener behin­derter Menschen wahrscheinlich. Eine Übertragbarkeit dieser Daten auf die Ver­hältnisse in der Bundesrepublik Deutsch­land erscheint uns durchaus gerechtfer­tigt; dies wird u.a. gestützt durch eine Untersuchung von Nel Draijer, die für die Niederlande die wichtigsten ameri­kanischen Erkenntnisse in diesem For­schungsbereich bestätigen konnte(Nel Draijer 1988, zit. nach Enders 1990). In jedem Fall ist wohl die Vorkommens­häufigkeit sexuellen Mißbrauchs bei kör­perbehinderten Personen zumindest ge­nauso hoch wie bei nichtbehinderten Per­sonen. Bildet man aus vergleichbaren Studien und bei Zugrundelegung der weitgefaßten Definition eine nach Stich­probengröße gewogene Prävalenzrate betroffener Frauen, so ist diese mit 36% bei nichtbehinderten Frauen etwas ge­ringer als die entsprechende Prävalenz­rate von 39% bei körperbehinderten Frauen. Da keine Aussage darüber mög­lich ist, ob den Studien von Brown (1988) und Doucette(1986) tatsächlich eine weitgefaßte Definition von sexuel­lem Mißbrauch zugrundeliegt, könnte die Differenz auch größer sein. Jeden­falls überwiegt bei der einzigen Ver­gleichsstudie(Doucette 1986) der Pro­zentsatz mißbrauchter körperbehinder­ter Frauen mit 47% deutlich den pro­zentualen Anteil nichtbehinderter Frau­en(34%).

Die Täter, von denen sexuelle Übergrif­fe auf behinderte Menschen ausgehen, stammen nach Erkenntnissen von Am­merman et al.(1989, vgl. Tab. 3) und derSeattle Rape Relief Study vorwie­gend aus dem sozialen Nahbereich. Erfahrungswissenschaftliche Berichte bestätigen diese Angaben. Sie bezeich­nen Familienmitglieder, Verwandte und Bekannte(u.a. Lehrer, Betreuer, Pfle­

Tab. 3: Täterstruktur bei sexuellem Mißbrauch behinderter Kinder und Jugendlicher(Daten­quelle: Ammerman et al. 1989)

Sexueller Mißbrauch! Täter Anzahl% Mutter 4 27 Vater 6 40 Stiefvater 3 20 (oder Freund der Mutter) Bekannte 3 20 (z.B. Nachbarn) Fremde 2 13 andere Verwandte S 33

1 In 40% der Fälle wurde ein Kind von mehreren Tätern mißbraucht. Die Summe der Prozentwer­te liegt daher über 100%.

ger, Therapeuten, Busfahrer) als die häu­figsten Täter(u.a. Aiello 1986; Cohen & Warren 1990; Stuart& Stuart 1981). Auch bei betroffenen nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen stellen Per­sonen aus dem sozialen Nahbereich die zahlenmäßig größte Tätergruppe dar. Dennoch lassen nach Angaben von Co­rin(1986) die Daten derSeattle Rape Relief Study die Annahme zu, daß be­hinderte Menschen ihre Täter häufiger kennen als nichtbehinderte Kinder und Jugendliche. Die Studie ermittelte, daß bei nur 1% der sexuellen Übergriffe die Täter den betroffenen behinderten Men­schen fremd waren, während bei nicht­behinderten Kindern und Jugendlichen die Häufigkeit sexueller Übergriffe durch Fremdtäter zwischen 11%(Russell 1986) und 18,5%(Wyatt 1985) lag. Einschrän­kend muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß behinderte Menschen in größerem Maße beaufsichtigt werden (z.B. bei Freizeitaktivitäten) als nicht­behinderte Kinder und Jugendliche und daher vor Fremdtäternrelativ ge­schützt sind.

Gefährdungsfaktoren

Übereinstimmend wird in der Literatur festgestellt, daß dem FaktorBehinde­rung keineswegs eine protektive Wir­kung zugeschrieben werden kann, son­dern aus der Behinderung und dem ge­sellschaftlichen Umgang mit behinder­ten Menschen Gefährdungspotentiale erwachsen, die behinderte Menschen

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

eher als nichtbehinderte in Gefahr kom­men lassen, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Dies steht zunächst im Wider­spruch zur Auffassung, daß körper­behinderte Personen als Lebens- und Sexualpartner wenig attraktiv sind, oder von seiten der Nichtbehinderten gar als asexuelle bzw.sexuell neutrale We­sen angesehen werden(vgl. u.a. Paes­lack 1983; Weinwurm-Krause 1990). Of­fensichtlich spielen hier unterschiedli­che Intentionen eine Rolle. Dort, wo Machtausübung, Gewalt und Verfüg­barkeit als Hauptmotive im Vordergrund stehen, werden(körper-)behinderte Men­schen zu leicht erreichbaren, begehrten Sexualobjekten.

Macht- und Abhängigkeitsverhältnis­se. Die Ausnutzung von Macht- bzw. Abhängigkeitsverhältnissen stellt einen wesentlichen Aspekt des sexuellen Miß­brauchs von behinderten und nichtbe­hinderten Menschen dar.

Bei körperbehinderten Menschen wird die Etablierung von Macht- und Ab­hängigkeitsgefügen zwischen Täter und Opfer durch vielfältige Faktoren begün­stigt.

Finkelhor(1984) weist darauf hin, daß Täter bewußt Kinder und Jugendliche mit ihrer Meinung nach geringen Abwehrressourcen als potentielle Opfer auswählen.Abusers undoubtedly sense that some children do not make good targets. They sense that a child will not play along, will not keep a secret, will say no, cannot be intimidated(60). Be­hinderte Menschen sind aufgrund ih­rer körperlichen und/oder kommunikati­ven Beeinträchtigungen in der Regel noch weniger als nichtbehinderte Kin­der und Jugendliche in der Lage, bei se­xuellen Übergriffen Widerstand zu lei­sten(Cole 1986; ODay 1983, 3; Pacer Center 1985, 15). Dabei geht es nicht darum, dem Mißbrauchsopfer eineMit­schuld zu geben, weil es sich nicht ge­gen den Mißbrauch zur Wehr gesetzt hat wie dies nicht selten bei Vergewalti­gungsprozessen versucht wird. Finkelhor (1984) weist aber darauf hin, daß Kin­der und Jugendliche, die selbstbewußt ihre Meinung, Bedürfnisse usw. zum Ausdruck bringen können, weniger ge­

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