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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

fährdet sind, sexuell mißbraucht zu wer­den.

Stuart& Stuart(1981) sehen zudem eine psychologisch bedingte Gefährdung bei behinderten Menschen.Most handi­capped persons are not socially motivated to be as aggressive with their assailant as their assailant is with them(249). Berkmann(1986) und Cole(1986) ma­chen auf die spezifischen Sozialisations­bedingungen vieler behinderter Men­schen aufmerksam Pflegebedürftigkeit und die weitgehend fremdbestimmte Le­bensführung, durch die ein willfähriges und gehorsames Verhalten gegenüber Autoritäts- oder pflegenden Personen gefördert wird. Dieses Verhalten wird weiterhin durch die häufig sehr einge­schränkte oder fehlende Intimsphäre be­hinderter Menschen begünstigt. Degener(1990) betont, daß die meisten behinderten Menschen alltägliche Ein­griffe in ihren Intimbereich durch Ärz­te, Therapeuten, Lehrer usw. erleben, wodurch ihnen vermittelt wird:JedeR darf meinen behinderten Körper begut­achten, betasten, verrenken, operieren .... Ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung wird dann als ein Ge­walteingriff unter vielen anderen Ge­walteingriffen(die ertragen werden müs­sen) erlebt(4).

Sexuelle Übergriffe auf behinderte Men­schen werden vorwiegend durch Täter aus dem sozialen Nahbereich verübt. Von dieser Personengruppe sind viele körperbehinderte Menschen in bezug auf die Erfüllung ihrer elementaren Bedürf­nisse abhängig. Dieser Bedarf an Hil­feleistungen insbesondere körperbe­zogene Hilfestellungen und die dar­aus resultierenden Abhängigkeitsver­hältnisse werden von den Experten über­einstimmend als ein wesentlicher zur Gefährdung beitragender Faktor genannt (u.a. Cole 1986; Corin 1986; Fifield 1986; Watson 1984; Westcott 1991): Durch notwendige Pflege- und Hilfelei­stungen liegen Situationen ungewöhnli­cher Vertrautheit zwischen dem hilfs­bedürftigen körperbehinderten Men­schen und den hilfeleistenden Personen vor. Die Widerstände, die der Täter über­winden muß, um seine Mißbrauchsinten­tionen umzusetzen, sind deshalb sehr

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gering: Es müssen nicht erst intime Si­tuationen herbeigeführt werden, in de­nen es zu Übergriffen kommen kann. Vielmehr hat der Täter bereits Zugang zum Intimbereich des betroffenen behin­derten Menschen. Von der eigentlichen Pflegesituation bis zum sexuellen Über­griff sind kaum noch Hindernisse zu überwinden.

Durch das grundsätzliche Angewiesen­sein auf Hilfeleistungen sieht das Natio­nal Center for Youth with Disabilities (1992) eine Gefährdung besonders dann, wenn eine Vielzahl unterschiedlicher Menschen die Hilfe verrichten. Die Ge­fahr, daß sich unter den hilfeleistenden Personen ein potentieller Täter befindet, wächst mit der Anzahl der Personen, auf die ein behinderter Mensch zur Erfüllung seiner Bedürfnisse angewiesen ist.

Diskriminationsfähigkeit: Sowohl ein Überangebot an Berührungen durch viel­fältige oft alltägliche Pflegeleistun­gen als auch emotionale Deprivation können dazu führen, daß körperbehin­derte Menschen Mißbrauchssituationen nicht von anderen Berührungen Pflegeleistungen, Hilfestellungen oder anderen therapeutischen bzw. medizini­schen Handlungen unterscheiden kön­nen(Cole 1986; ODay 1983; Watson 1984).

Jürgmeier(1991) zeigt auf, daßdie Se­xualisierung des HelferIn-Behinderten­Kontaktes... auch für Betroffene selbst anfänglich eine positive Erfahrung sein [kann](13). Sie fühlen sich einmal nicht alsasexuelles Stück Holz, son­dern als attraktives sexuelles Wesen (13). Dies kann verhindern, daß der Miß­brauch erkannt und rechtzeitig beendet werden kann.

Distanzloses Verhalten: Watson(1984) bezeichnet distanzloses Verhalten Behin­derter beispielsweise das Umarmen von Besuchern im Klassenraum als weite­ren gefährdenden Faktor. Dieses Verhal­ten kann ihrer Ansicht nach für den Tä­ter möglicherweise als Anlaß für sexu­ell ausbeuterisches Verhalten dienen.

Zemp(1992) und Walter(1991) führen weitergehend sexuell distanzloses Ver­halten behinderter Frauen als gefähr­

denden Faktor an. Aufgrund gesell­schaftlicher Einstellungen zur Sexuali­tät behinderter Menschen wird nach Auf­fassung von Zemp(1992) die Sexualität behinderter Menschenzu einer behin­derten oder verhinderten, auf jeden Fall zu einer fremddefinierten Sexualität (22). Ihrer Auffassung nach ist es des­halb nicht verwunderlich, daßsich be­hinderte Frauen manchmal durch soge­nannte Verfügbarkeit fehlende Zuwen­dung, Zärtlichkeit und Liebe erkaufen wollen(22). Dieser Vertrauensvorschuß kann von Tätern leicht für ihre eigen­nützigen Zwecke ausgenutzt werden (Walter 1991, 104).

Mangelnde Informationsvermittlung: Nach Erkenntnissen von ODay(1983), Aiello(1986) und Stuart& Stuart(1981) erhalten behinderte Menschen weit we­niger Informationen über Sexualität und sexuellen Mißbrauch als nichtbehinderte Menschen einer vergleichbaren Alters­gruppe. Die Autoren weisen vor allem auf die geringe Präventivarbeit in Son­dereinrichtungen hin. Vorurteile im Zu­sammenhang mit Sexualdelikten kör­perbehinderte Menschen passen einfach nicht in das gängige Klischee des Vergewaltigungsopfers oder die Vor­stellung, körperbehinderte Menschen seiengeschlechtslose Neutren tragen nicht zuletzt zu dieser mangelnden Prä­ventiv- und Aufklärungsarbeit bei. Mangels dieser Informationen schätzen sich behinderte Menschen selbst häufig nicht als gefährdet ein, und falls sie sexuellen Übergriffen zum Opfer fallen bewerten sie diese alsAusnahmesi­tuation, d.h. nehmen an, daß nur Ihnen so etwas widerfährt. Dadurch wird die Aufdeckung des Mißbrauchs erheblich erschwert(Degener 1990).

Gesellschaftliche Isolation: Neben den Abhängigkeitsbeziehungen durch das Angewiesensein behinderter Menschen auf verschiedene Hilfeleistungen und die daraus resultierende weitgehende Fremd­bestimmung stellt nach Auffassung von Cole(1986) die gesellschaftliche Isola­tion behinderter Menschen durch Heim­unterbringung, Sonderbeschulung usw. einen wesentlichen Faktor dar, der zur

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995