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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

Gefährdung behinderter Menschen bei­trägt. Die eingeschränkte Umgebung vieler behinderter Kinder Sonderschu­len und-klassen, spezielle Transportmit­tel, das Fehlen unabhängiger Bewe­gungsmöglichkeiten bieten keinen Schutz vor sexueller Ausbeutung(Wat­son 1984). Degener(1990) berichtet, daß besonders in Heimen, Werkstätten und/ oder Wohnheimen für Behinderte neben der institutionellen Heimgewalt sexuel­le Gewalt gegen behinderte Frauen auf dem Wochenplan[steht](4). Cohen& Warren ermittelten bei einer Befragung amerikanischer und englischer Experten, daß die häufig sehr langen Fahrtzeiten von und nach der Schule mit Taxen oder Kleinbussen erhebliche Gefährdungs­potentiale für einen sexuellen Mißbrauch darstellen. Zudem verdeutlicht der ge­ringe Anteil von Fremdtätern, daß Son­dereinrichtungen keine vor Mißbrauch schützenden Orte darstellen. Cohen& Warren(1990) machen jedoch auch dar­auf aufmerksam, daß in Institutionen eher die Möglichkeit von Supervision gegeben ist als in privaten Umgebun­gen. Befragte amerikanische und engli­sche Experten schätzen aus diesem Grund die Gefährdung durch familiale und ambulante Versorgung behinderter Menschen hoch ein.

Cole(1986) und Stuart& Stuart(1981) weisen darauf hin, daß es behinderten Menschen häufig an helfenden Netz­werken und Freunden fehlt. Behinderte Menschen müssen daher, um Hilfe zu suchen, zunächst diese Barriere der Iso­lation durchbrechen. Dies stellt ein wei­teres Hindernis dar, sexuellen Mißbrauch aufzudecken und zu beenden.

Befragung Fragestellung

Aus dem dargestellten Gefährdungs­gefüge körperbehinderter Menschen, se­xuell mißbraucht zu werden, kommt un­seres Erachtens der Präventivarbeit im Hinblick auf die Verringerung der Ge­fährdung zentrale Bedeutung zu.

Präventivarbeit bezieht sich sowohl auf vorbeugende Maßnahmen(primäre Prä­

vention), die auf eine Verringerung der Inzidenzrate des sexuellen Mißbrauchs körperbehinderter Menschen abzielen, als auch auf Maßnahmen der sekundä­ren Prävention, durch die ein bereits be­stehender Mißbrauch frühestmöglich er­kannt und angemessen interveniert wer­den kann.

Um der Gefährdung körperbehinderter Menschen entgegenzuwirken, ist eine umfassende Information und Aufklärung über dieses Problemfeld erforderlich. Ad­äquate Handlungsorientierungen müssen sowohl für Personen, die von einem vor­liegenden Mißbrauch Kenntnis erhalten oder einen solchen vermuten, als auch für unmittelbar vom Mißbrauch betrof­fene Kinder, Jugendliche und erwachse­ne körperbehinderte Menschen entwik­kelt werden. Im Vordergrund der Bemü­hungen muß die Vermeidung einer Ge­fährdung durch mangelnde Information und Aufklärung stehen.

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der pädagogischen Ar­beit mit körperbehinderten Kindern und Jugendlichen in der Schule zu. Gerade durch die in der Schule bestehenden ver­balen wie nonverbalen Interaktionsmög­lichkeiten können Lehrer wichtige Si­gnale in bezug auf einen möglicherwei­se vorliegenden sexuellen Mißbrauch erhalten. Pädagogen müssen daher be­fähigt werden, dieseHilferufe zu er­kennen und in einer angemessenen Wei­se zu reagieren. Handlungsorientierungen für die Präven­tivarbeit in Körperbehindertenschulen können jedoch nur dann erarbeitet und wirkungsvoll umgesetzt werden, wenn Pädagoginnen und Pädagogen neben ei­nem entsprechenden Fachwissen vor al­lem eine adäquate Sensibilität in bezug auf das Erkennen von Mißbrauchssitua­tionen und möglichen sexuellen Miß­brauch aufweisen.

Ziel unserer Untersuchung war es da­her, den /nformationsstand und die Sen­sibilität von Pädagogen und Pädago­ginnen gegenüber sexuellem Mißbrauch von körperbehinderten Menschen, die Einschätzung der Gefährdung sowie den Ist-Zustand bereits geleisteter Prä­ventivarbeit in einer hypothesenerkun­denen Studie zu explorieren. Im einzel­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

nen interessierten folgende Fragestellun­gen:

Informationsstand

Auf welche Kenntnisse und Erfahrun­gen können Lehrerinnen und Lehrer an Körperbehindertenschulen im Be­reichsexueller Mißbrauch(Schu­lungen, Kontakte mit betroffenen Schülern, usw.) zurückgreifen?

Sensibilität

Wie sensibilisiert sind Lehrerinnen und Lehrer für die Problematik des sexuellen Mißbrauchs(hier geht es vor allem um die Wahrnehmung und Einordnung von Mißbrauchssitua­tionen und das Erkennen von sexuel­len Mißbrauchshandlungen)?

Gefährdung

In welchem Maße schätzen Lehrerin­nen und Lehrer körperbehinderte Menschen als gefährdet ein, sexuell mißbraucht zu werden?

Von welchen Faktoren wird diese Ein­schätzung abhängig gemacht?

Prävention

Halten Lehrerinnen und Lehrer Prä­vention von sexuellem Mißbrauch an der Schule für Körperbehinderte für notwendig und für durchführbar?

Welche Präventivarbeit wurde bisher in der Schule bzw. in der eigenen Ar­beit geleistet?

Durchführung der Untersuchung

Fragebogen: Der von den Verfassern entwickelte Fragebogen zu den darge­legten Fragestellungen wurde in einer Voruntersuchung an Lehramtsanwärtern und-anwärterinnen überprüft. Anschlie­Bend erfolgte eine Modifikation des Er­hebungsinstrumentes unter Berücksich­tigung der erkennbaren Schwierigkeiten, die bei der Bearbeitung des Fragebogens auftraten, sowie der Anregungen und Hinweise der Referendare.

Die einzelnen Items des Fragebogens entsprechen den weiter oben aufgeführ­ten differenzierten Fragestellungen. Zwei Fragen beziehen sich auf den Fragen­komplex/nformationsstand: die eine ermittelt die Informationsquellen der

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